Anthropologischer Aktionismus

»Es gibt nur Karl May und Hegel, alles dazwischen ist eine unreine Mischung.« – Ernst Bloch

Im politisch prägnanten Jahr 1968 erscheint als Band 72 der Werkausgabe von Karl May ›Schacht und Hütte‹, eine Sammlung früher, um 1875 erschienener Schriften »aus der Redakteurszeit«, nämlich u. a. Beiträge aus den von May herausgegebenen Zeitschriften ›Schacht und Hütte‹ und dem ›Deutschen Familienblatt‹ (»Schacht und Hütte: Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für Berg-, Hütten- und Maschinenarbeiter«). May schlug sich bis dahin als Kleinkrimineller durchs Leben, hatte auch schon einige Jahre Zuchthaus hinter sich. Dazu passt das Cover des Bandes der Gesammelten May-Werke: Ein Mann auf der Flucht, am Seil eines Fesselballons hängend, ein feuerroter Abendhimmel beleuchtet die Szene, zwei nur schemenhaft erkennbare Männer kommen angelaufen, am schiefen Horizont klebt eine kleine Bergbaustadt.
Der Nautilus-Verlag nutzt dieses Bild als Vorlage für das Cover von David Graebers ›Direkte Aktion‹. Nur: das Seil hängt jetzt an einer steilen Wand, die Schattenfiguren sind mit Schlagstock und Schild bewaffnete Polizisten, die Bergbaustadt ist Metropole, vielleicht New York. Der Mann flieht nicht, sondern seilt sich ab; sein Gesicht ist mit einem roten Tuch vermummt. Und nebenbei liest er noch ein Buch, das er lässig in der linken Hand hält, nämlich: David Graebers ›Direkte Aktion‹. Das ist der einzige plausible Hinweis auf das, was das Buch laut deutschem Untertitel zu sein behauptet: »Ein Handbuch«.
Der Untertitel der amerikanischen, 2009 bei AK Press erschienenen Originalausgabe war treffender, sachlich genauer: »An Ethnography«. (Die Covergestaltung dazu zitiert übrigens das 19. Jahrhundert, vielleicht einen der damals verbreiteten opulenten Hausratgeber; ein Emblem zeigt eine Straßenschlacht zwischen einer uniformierten und einer wütenden Männergruppe). Geschrieben hat Graeber das Buch bereits in der »aufregenden Zeit« um 2000; Genua war dann der Bruch, und der 11. September 2001 die Zäsur. Tatsächlich hat die wesentlich umfangreichere Originalausgabe etwas von Ethnografie, ist teilweise wie ein Tagebuch aufgebaut, versucht sich an politischer Feldforschung, beobachtet Protestbewegungen aus der Perspektive der Völkerkunde. Die deutsche Ausgabe wurde stark gekürzt, und ein neues Vorwort kam hinzu. Für ein Handbuch hätte noch mehr gekürzt werden können, nämlich auf die Grundpostulate zur direkten Aktion: Anarchisten »wollen ›im Gehäuse der alten eine neue Gesellschaft aufbauen‹. Dem entspricht die direkte Aktion haargenau, denn im Kern bedeutet sie, angesichts von ungerechten Autoritätsstrukturen so zu handeln, als sei man bereits frei.« (S. 19) Beziehungsweise: »›Freiheit existiert nur im revolutionären Augenblick.‹ … Das ist nichts anderes ans eine elegante Formulierung der Logik direkter Aktion: das trotzige Insistieren, sich so zu verhalten, als sei man schon frei.« (S. 303) Das ist das theoretische Fundament, mit dem Graeber seinen Anarchismus allenthalben nachweisen will, jenseits des Staates, vom kommunalen Kaffeekränzchen bis zum Occupy-Camp.
Solche Slogans genügen, um in Deutschland als der »intellektuelle Superstar der Occupy-Bewegung« (Die Zeit) zu gelten, als »so etwas wie das Mastermind dieser Protestbewegung« (Der Spiegel). Und die FAZ weiß: »David Graeber ist nicht nur radikal, er ist auch amüsant, eine gefährliche Mischung.« Die Leserinnen und Leser von Graebers zahlreichen, auch auf Deutsch zu habenden Büchern loben indes, wie bei den Kundenbewertungen bei Amazon (übrigens: war der Streik dort nicht schlechthin exemplarisch für direkte Aktion?) nachlesbar, den Verzicht »auf den übertriebenen Gebrauch von Fremdwörtern«, die »große Sachkompetenz«, die Leidenschaft, die Fülle an »Denkanstößen« und »unumstößlichen Fakten«; kurzum, schreibt einer: »Absolute Kaufempfehlung !!! Alternativen zum herrschenden System« (und 2 von 2 Kunden fanden die mit diesem Satz betitelte Rezension hilfreich).
Dass Graeber ein weiteres unterhaltsames und für viele sicherlich auch lehrreiches Buch geschrieben hat, soll gar nicht in Abrede gestellt werden (der Untertitel von Karl Mays Zeitschrift ›Schacht und Hütte‹ hätte gut aufs Cover gepasst!); als irgendwie radikale, und insofern praxisrelevante Theorie-Intervention taugt dieses Buch jedoch mitnichten: Sofern Graeber darauf insistiert, Anthropologe zu sein, ist er eben kein Gesellschaftstheoretiker; und die politische Selbstverortung als Aktivist reicht nicht für die reflexive Aufklärung emanzipatorischer Praxis. Er kennt nichts Negatives, setzt positiv – »direkt« – die Aktion, wo er sie gerade haben will. Für die Empörten, die Graeber begeistert rezipieren, klingt das plausibel genug, um bei aller blinden Wut die Welt, die wütend macht, beleuchtet zu bekommen. Macht und Herrschaft sind dabei bloß Chimären, die wie optische Täuschungen verschwinden, und Ohnmacht und Unterdrückung als Passivierung und Beschädigung der »Aktivisten« gibt es sowieso nicht. So kann Graeber kritisch Position beziehen, ohne dass diese Positionierung Kritik wäre.
Graebers Programm ist ein anthropologischer Aktionismus, mithin ein demokratischer Vitalismus, der für die amerikanische liberale wie libertäre Populärphilosophie nichts Ungewöhnliches ist und sich in einer langen Tradition bei Chomsky ebenso wie Russell finden lässt, bei Bookchin ebenso wie bei Toffler oder sogar Dewey und selbst schon bei Thoreau. Allein über diesen Bogen für die deutsche Übersetzung Karl May ins Spiel zu bringen, macht Sinn, konterkariert fast ein bisschen polemisch den Aktionismus, dem auch in der gekürzten Fassung am Ende ganz praktisch die Luft ausbleibt. Wie auf dem Cover: Was Graeber »direkte Aktion« nennt, wiederholt sich in sich selbst, immer kleiner und unkenntlich werdend, bis es schließlich ganz verschwindet. Das Verhalten nach einer Idee der Freiheit, die bloß die herrschende Unfreiheit ignoriert, ist keine direkte Aktion, sondern einfach nur absurd.

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David Graeber, ›Direkte Aktion‹, aus dem Englischen von Sophia Deeg, Edition Nautilus: Hamburg 2013, 352 S. brosch.