Architektur ums Ganze: Die Zukunft der Stadt, die Stadt der Zukunft

Gerade ist von Nils Boeing die Flugschrift ›Von Wegen. Überlegungen zur freien Stadt der Zukunft‹ in der Edition Nautilus erschienen. Hier ein paar erste Gedanken dazu.

Vor knapp einem halben Jahrhundert veröffentlichte Alexander Mitscherlich seinen Sammelband ›Thesen zur Stadt der Zukunft‹, ein Nachschlag zu seinem damals für Furore gesorgt habenden Essayband ›Die Unwirtlichkeit unserer Städte‹; im Licht der Debatten um Stadt, Aneignung des städtischen Raums, Recht auf Stadt, urbane Veränderungen, urbaner Widerstand etc. wirken Mitscherlichs Thesen heute zwar politisch vergleichsweise harmlos, obwohl sie in ihrer diagnostischen Konsequenz wiederum vergleichsweise radikaler als das erscheinen, was seit einigen Jahren unter dem Vorzeichen der Gentrifizierungskritik agiert.
Warum?
Mitscherlich kommt schon 1965 mit großen Parolen daher, proklamierte eine »Anstiftung zum Unfrieden«. Das war allerdings nicht als Aufruf für politische Praxis gemeint, sondern vielmehr eine Empfehlung, in den entsprechenden Abteilungen, in der Verwaltung und in den Planungsbüros – damals noch weitgehend in der Hand des Staates – umzudenken; und zwar umzudenken, um derart einzulenken in eine Fehlentwicklung der (deutschen) Großstädte im Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg, die – so ja Mitscherlichs Zentralthese von der Unwirtlichkeit der Städte – dazu geführt hat, dass die Städte eigentlich gar keine Städte mehr sind; dass nämlich gerade durch die moderne oder modernistische Stadtplanung und -entwicklung Qualitäten verloren gegangen sind, die bisher die Stadt – in ihrer Vielfalt – überhaupt als Wohn- und Lebensort der Menschen charakterisiert haben.

Diese Qualitäten gelte es, so Mitscherlichs Beharren auch in seinem Entwurf zu einer ›Stadt der Zukunft‹, wieder herzustellen, sie gleichsam zum Grundzug des Um-, oder sogar Neubaus der Städte zu machen. Das begnügt sich jedoch nicht mit neuen Baustoffen, neuen Bauformen, neuen Verkehrsmitteln etc.,1) sondern fordert, von den Interessen, Wünschen und Bedürfnissen der Stadtbewohnerinnen und -bewohner auszugehen. Und das heißt politisch Partizipation (man denke an die Konzepte des kritischen Regionalismus und labyrinthischen Funktionalismus), das heißt aber auch – Mitscherlich argumentiert als Psychoanalytiker – sozialpsychologisch einzugreifen, nämlich Bedingungen schaffen, nach denen die Menschen in den Städten sich selbst wieder als Akteure der urbanen Lebensgestaltung, i. e. ihrer urbanen Lebensgestaltung begreifen. Beseitigt werden muss eine psychische Verelendung der Städte, beseitigt werden muss die Not, die Menschen in ein würdeloses Dasein zwingt. Gestärkt werden muss subjektive Handlungsmacht, Praxis.

Das zeitgleich – Ende der sechziger Jahre – von Henri Lefebvre postulierte Recht auf Stadt zielte im Prinzip auf nichts anderes. Darauf beruft sich heute nun auch gerne die gentrifizierungskritische Bewegung, die eben unter der Parole »Recht auf Stadt!« auftritt. So gelang es in den letzten Jahren, einzelne Projekte – in Hamburg prominent das Gängeviertel – gegen den Abriss zu verteidigen, sich also kraft wahrgenommener bürgerlich-demokratischer Partizipationsgewalt einzumischen und mitzumischen. Im Resultat bleiben diese Projekte allerdings Refugien, die am neoliberalen Umbau der Städte an sich nichts ändern – sondern ganz im Gegenteil diesen Umbau sogar noch alternativkulturell bereichern; für die offizielle Stadtentwicklung ist das dann meist ein willkommener Kompromiss. Das Gängeviertel ist am Ende vollends in das Hamburger Stadtmarketing-Programm integriert, und zwar voll und ganz im Einvernehmen mit denjenigen, die hier wortführend als Gentrifizierungskritiker auftreten.

»NION« wurde vom Feuilleton gefeiert, in der Großen Bergstraße hat – partizipatorisch über ein Bürgerentscheid beschlossen – das Wegwerfmöbelunternehmen Ikea sein Lagerkaufhaus eröffnet, der Fortbestand der Roten Flora ist ungewiss, das Kulturzentrum KoZe im Münzviertel geschlossen, geräumt und abgerissen; und unweit davon entfernt: die ewige Großbaustelle HafenCity mit ihren banalmodernistischen Schrottbauten, an der Spitze die immer unfertiger werdende Elbphilharmonie, eine hübsch-hässliche Prunkruine sondergleichen.

Nimmt man dazu jetzt die Wohnneubaugebiete dazu, mit denen die urbane Peripherie bei gleichzeitigem Urbanitätsverlust erweitert wird, ergibt sich das Bild einer Agglomeration, die sich kaum noch mit den überlieferten Konzepten von Stadt beschreiben lässt, außer man nennt das die unfreie Stadt, wie sie Mitscherlich kommen sah vor fünf Jahrzehnten.

Das beschauliche Stadtrandgebiet: Es kann ja sein, dass Menschen, die hier ihr Eigenheim gekauft oder eine Wohnung gebietet haben, sich glücklich fühlen, sich wohl fühlen, zufrieden sind. – Die Häufungen psychischer und psychosomatischer Erkrankungen, Selbstmordraten, die Zahlen über familiäre Gewalt und die allgemeine Armutsstatistik widersprechen freilich solcher Selbstwahrnehmung der Leute. Die Idylle am Stadtrand ist Fassade. Es braucht nicht viel, um zu erkennen, dass die Menschen, die hier leben, keine Akteure ihrer eigenen Geschichte sind. – Von den »Kämpfen« auf ein »Recht auf Stadt« in den Zonen, die als Zentren urbanen Lebens politisch deklariert werden, ist die Peripherie, ist alles, was nicht zum Image der Großstadt gehört, jedenfalls abgeschnitten.

Nun hat Nils Boeing (ohne auf Mitscherlich einzugehen) unter dem Titel ›Von Wegen‹ auch Thesen zur Stadt der Zukunft vorgelegt; sein Entwurf ist optimistischer. Er nennt seine »Flugschrift« (so der Name der schönen Reihe beim Hamburger Nautilus Verlag): ›Überlegungen zur freien Stadt der Zukunft‹ …

(Anfang Sept. 2015. – Fortsetzung folgt …)

Nils Boeing, ›Von Wegen. Überlegungen zur freien Stadt der Zukunft‹, Edition Nautilus: Hamburg 2015, 160 S. brosch.

  1. In der Tat waren von solchen technischen und architektonischen Visionen die modernen wie dann seit den 1970ern postmodernen Debatten um zukünftige Stadtentwicklungen bestimmt. (↑)

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Niels Boeing, ›Von Wegen. Überlegungen zur freien Stadt der Zukunft‹, Edition Nautilus: Hamburg 2015, 160 S. brosch.