Im kunst-klub – zum Politischen im Produktionssegment Kunst – diskutiert Kerstin Stakemeier mit Gerald Raunig und Frank Engster über den Berliner Euromayday.
Von 1988 bis 2004 wurden in Berlin Kreuzberg vom DGB unabhängige »revolutionäre 1. Mai-Demonstrationen« organisiert. Seitdem wurden die Aktivitäten auf die Mobilisierung gegen die alljährliche Demonstration der NPD und auf Aktionen um den 8. Mai verschoben. Im Hintergrund dieser Entwicklung steht das Auseinanderbrechen der Antifaschistischen Aktion Berlin (AAB) im Februar 2003 in Kritik & Praxis Berlin (KP) und Antifaschistische Linke Berlin (ALB). Danach reklamierten beide Gruppen die Organisation des 1. Mai für sich, so dass es etwa 2003 insgesamt drei Demonstrationen gab.
Nach dem zunehmenden Abgleiten der »Maifestspiele« (AAB-Aufruf 2002) in Kiezkrawalle waren solidarisches Handeln und organisatorischer Einfluss zunehmend weniger erkennbar. Demonstration und Krawall drifteten auseinander und entpolitisierten sich so gegenseitig. Trotzdem war der 1. Mai seit dem antinationalen Aktionswochenende »Kein Frieden mit Deutschland – gegen die Kollaboration mit der Nation« in Berlin eng an Fragen des Antinationalismus im Hinblick auf die deutsche Nation geknüpft. Doch statt der Auseinandersetzungen antinationaler und antideutscher Gruppen bietet heute der Euromayday eine Rückkehr zum Internationalismus auf europäischer Ebene an.
Im kunst-klub stellt sich damit die Frage, was das Prekariat und seine künstlerische Avantgarde repräsentieren. Handelt es sich um die Überwindung der Trennung von Kultur und Politik? Oder nur um eine weitere Einschreibung kapitalistischer Produktionsverhältnisse in die produzierenden Subjekte, einen neuerlichen Modernisierungsschub der kapitalistischen Gesellschaft?
Kerstin Stakemeier: Die Euromayday-Parade fand 2006 erstmals in Berlin statt. FelS und attac haben sich unter anderem mit der fuckparade zum Euromayday zusammengeschlossen. Während die Geschichte des 1. Mai in Berlin immer auch Geschichte der deutschen Autonomen und Antifa-Bewegung war – zuletzt der Konfrontation mit der Nation – steht der Euromayday unter politisch allgemeineren Vorzeichen.(1) Organisatoren wie Teilnehmende werden als lokal organisierten Einheiten unter dem Begriff des »Prekariats« europaweit zusammengenommen. Damit verschwindet zunächst der antinationale Tenor, der durch die Rückkehr des Themas »Arbeit« in den 1. Mai ersetzt wird. Zudem öffnet sich der Kreis der Beteiligten in Berlin für Gruppen, die zuvor vom 1. Mai durch ein klares linksradikales Ausschlussverfahren abgetrennt waren, das gilt vor allem für die Zusammenarbeit mit attac und allgemeiner für diejenige mit diffusen Aktionsbündnissen.
Der Euromayday scheint den 1. Mai zurück in Richtung des Arbeitskampfes zu öffnen und versucht gleichzeitig, die Frage der Arbeiterorganisierung nicht in die Hände national agierender Gewerkschaften zu geben. Im Gegensatz zu diesen erklärt er eine Gemeinsamkeit aller ProduzentInnen. Aufgehoben wird der kapitalistische Gegensatz zwischen Kopf- und Handarbeit unter dem Stichwort »Prekarität«, das – wie es der Aufruf formuliert – Putzfrauen und Performancekünstler auf eine gesellschaftliche Ebene bringt und Solidarität zwischen ihnen behauptet. Hinzu kommt ein allgemeines Programm von nationalen Bürgerrechten bis Existenzgeld. Hierbei fungiert Kultur weniger als Rahmenprogramm, sondern als Ausdruck der Vergemeinschaftung; der Aktionismus scheint somit erweitert in Richtung Performance und diversifiziertem Multikulturalismus und schließt sich damit auch gegen eine autonome Demonstrationskultur ab.
Gerald Raunig(2): Ich möchte ein paar Aspekte problematisieren, die das von dir aufgeworfene Narrativ über den Kontext, die Genealogie und die inhaltliche Ausrichtung des Euromayday etwas verschieben.
Das Problem einer Fokussierung auf »Kultur« und »Multikulturalismus«, die in der Euromayday-Bewegung so nicht vorkommt: Diese Fokussierung impliziert vielmehr die alte Figur der dichotomischen Abspaltung (der Kultur von der Politik, des Ereignisses von der Organisierung, der Mikro- von der Makropolitik, der Reform von der Revolution). Die Kultur wird dabei von der Politik abgespalten, um erstere umso besser als partikular attackieren zu können. Zuletzt etwa in einem langen, aber schlecht recherchierten Artikel in der Jungle World(3), der die Kämpfe der französischen Intermittents(4) mehr oder weniger auf die Partikularität von »Kulturprekären« verkürzt, die am Ende aufgrund ihrer Stellung in der Gesellschaft des Spektakels quasi verdammt wären, auf die Kultur beschränkt zu bleiben, die kulturelle als politische Praxis zu verkaufen. Statt die Intermittents und Précairés auch in einer seither nicht mehr abbrechenden Reihe von Kämpfen zu kontextualisieren, wird die Bewegung in der Analyse »kulturalisiert«, eben als »kulturprekäre« grundsätzlich ihrer Transversalität beraubt – wie übrigens auch die relativ erfolgreiche Hamburger Euromayday-Parade 2005 kontrafaktisch als klein und irrelevant, die Euromayday-Bewegung als »kulturell« abgetan wird.
Ein wichtiger Bestandteil dieser Argumentationsfigur ist die Unterstellung, die KulturproduzentInnen würden ohnehin prinzipiell nur für ihre eigenen Privilegien kämpfen. Anstelle solcher Diffamierungsmethoden wäre es vielleicht gescheiter, sich Gedanken über die Funktion zu machen, über die spezifischen Kompetenzen, die »KulturproduzentInnen« im Rahmen von Organisierung und sozialer Bewegung einbringen können: einerseits im Unterschied zu den AkteurInnen anderer Felder, andererseits aber über die identitären Verstrickungen der jeweiligen Felder hinaus in der Bündelung zu transversalen Linien.(5)
Weder können »KulturproduzentInnen« für sich in Anspruch nehmen, bewusste Avantgarde einer Bewegung gegen den neoliberalen Kapitalismus zu sein, noch ist es sinnvoll, dem simplifizierend-anklagenden Motiv von »KulturproduzentInnen« als VorreiterInnen der fremdbestimmten Prekarisierung von Arbeit und Leben zu folgen. Viel eher geht es darum, sich dieses ausfransende Feld genauer anzusehen und seine Aspekte nicht generalisierend zu begreifen, sondern als ein mögliches Feld der Selbstbeforschung über (Re-)Produktionen neoliberal verwertbarer Arbeits- und Lebensweisen sowie die darin entstehenden Widerstandsformen. Diese Selbstbeforschung ist gegen die Formen von Selbstprekarisierung gerichtet, auf die Dekonstruktion der Mythen von Selbstbestimmung und Freiheit, und auf die Frage, wie eine transversale Vernetzung mit AkteurInnen anderer Felder möglich wird.
Die Euromayday-Paraden sind weder in Sachen neuer, nicht-repräsentationistischer Ausdrucksformen noch in Bezug auf ihre soziale Zusammensetzung als »kulturell« (im Gegensatz zu politisch) zu identifizieren. Vielmehr ist eine derartige taktische »Kulturalisierung« der Euromaydays und die Denunzierung anderer als der klassischen und traditionellen massenhaften Artikulationsformen einfach Ausdruck eines reduktionistischen Verständnisses des Politischen.
Ein anderes Problem scheint mir die imaginierte Verengung des Begriffs Prekarisierung auf Arbeit und Arbeitskämpfe zu bezeichnen: Wie in fast allen Aufrufen zum Euromayday, von Napoli nach Helsinki, von Malaga bis Maribor, nachzulesen, geht es eben nicht nur um die Prekarisierung von Arbeit, sondern immer auch um die Prekarisierung von Lebensweisen und – im Gegenzug dazu – um die alte Forderung nach dem guten Leben gepaart mit mehr oder weniger konkreten Forderungskatalogen, die sicher nicht nur die Reform des Sozialstaats betreffend. Über das Begehren nach dem Staatsapparat hinaus, über die ständige Fixierung auf den Köder Staat, geht es hier vor allem darum, gegen die Logik von Repräsentation, Staat und Volk neue instituierende Praxen zu erproben.
Und noch ein Problem: Es reicht nicht aus, den Berliner Euromayday als lokales Ereignis in der Geschichte der Berliner 1. Mai-Manifestationen zu kontextualisieren. Was dabei verkürzt wird, sind alle vier Hauptaspekte der Euromayday-Bewegung: erstens die Öffnungsbewegung von einer Fokussierung auf Arbeit, Arbeitslosigkeit, Arbeitsverhältnisse hin auf die Prekarisierung von Arbeit und Leben in all ihren Aspekten. Zweitens die Erfindung von neuen nicht-repräsentationistischen Aktionsformen. Drittens die zwei Zeitlichkeiten der Euromayday-Bewegung, die Zeitlichkeit des Ereignisses (der Parade und der Aktionen) und die Zeitlichkeit des Prozesses (die Dauer der Organisierung). Viertens – und in diesem Zusammenhang am wichtigsten – die grundlegend internationalistische Ausrichtung des Euromayday. Wenn nun Berlin erstmals auch eine Parade veranstaltet, ist das als Teil dieses internationalen Organisierungsprozesses zu verstehen, der einerseits keineswegs einen Staatsapparat ausbilden soll, andererseits aber auch über die Ausrichtung einer einmal im Jahr stattfindenden Parade weit hinausgeht.
Kerstin Stakemeier: Mir bleibt unklar, was der Gewinn eines politischen Selbstverständnisses ist, dass sich aus der Auflösung von Kategorien speist, die in die Struktur kapitalistischer Produktion eingeschrieben sind, ohne den Kapitalismus selbst anzugreifen. Die Prekarisierung der Lebensverhältnisse hebt keineswegs den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit auf, sondern versucht ihn lediglich ins Subjekt zu verlagern. Dies zu affirmieren, bedeutet, die kapitalistische Entfremdung zum positiven Ausgangspunkt politischer Praxis zu erklären.
Die Ausweitung des Begriffs des Prekären über den Bereich der Lohnarbeit hinaus auf jeden Lebensbereich ontologisiert eine Zurichtung in den Arbeitsverhältnissen zu einer des Subjektes an sich und gibt so jede radikale Veränderung verloren. Es naturalisiert die Prekarität der Herrschaft indem es sie zur einzig vorausgesetzten und unangetasteten Kategorie macht. Unsicher scheint nur der eigene Status.
Dies basiert auf der Grundannahme, dass die Trennung zwischen Politik und Kultur in der Gegenwart aufgehoben sei. Ich bezweifle, dass diese »Auflösung von Dichotomien« politisch produktiv ist. Da die Dichotomien grundlegend für die immer noch existierende Struktur kapitalistischer Massenproduktion sind, affirmiert ihre Leugnung lediglich die Ideologie des Kapitals selbst. Unter Voraussetzung der kapitalistischen Produktion bedeutet dies, dass die Abschaffung des Kapitals bereits realisiert scheint. Die Theorie, die die Prekarität zum Ausgangspunkt der eigenen Organisierung macht, orientiert sich mit dem Kapital statt gegen es. So werden dem Kapital Verbesserungsmöglichkeiten zur Verwaltung vorgeschlagen (Grundrente, globale soziale Rechte), statt seine Abschaffung anzugehen.
Walter Benjamin schreibt am Anfang seines Kunstwerk-Aufsatzes, dass der Kapitalismus die Bedingungen seiner eigenen Abschaffung produziert.(6) Diesem Gedanken folgte die damalige Arbeiterbewegung nach bestem Wissen und Gewissen und postulierte die kapitalistisch hergestellte Klasse der Arbeiter als dasjenige Subjekt, das alleine die Produktion umstürzen könne. Da aber eine vom Kapitalismus hergestellte Klasse höchstens in ihrer Abschaffung revolutionär sein kann, war die Annahme einer an sich revolutionären Klasse meist nichts weiter als der Weg zum linken Arm der Sozialdemokratie, mit der sich die Arbeiterbewegung selbst in die nationalen Gewerkschaften einschloss. Das führte zu einer Festigung der eigenen Position innerhalb der kapitalistischen Produktion.
Wenn man für die Gegenwart nun eine Vereinheitlichung der Produktionsbedingung in unterschiedlichen Bereichen der Produktion hin zum Prekären sieht und meint, die ehemalige Arbeiterbewegung heute als Prekariat erweitert auferstehen lassen zu können, sehe ich eine Wiederholung des Fehlers: es wird eine authentische Klasse bestimmt, die sich selbst nicht als Problem, sondern immer schon als Lösung versteht.
Weiter Benjamins Aufsatz als Ausgangspunkt nehmend, folgt unmittelbar auf die oben genannte Stelle die Behauptung, die Trennung von Basis und Überbau sei in Benjamins Gegenwart obsolet geworden. Auch 1936 ist jede Produktion kulturell. Und ich würde zustimmen: die Behauptung einer Trennung von Basis und ideologischem Überbau war zu jedem Zeitpunkt Ideologie, Beitrag zur arbeitsteiligen Verwaltbarkeit der Welt, die die Spuren der materiellen Produktion zu Gunsten ihrer bloß funktionalen Repräsentation »entsinnlichte«. Aber hiermit ist zunächst einmal nur gesagt, dass die Produktion an jedem Ort der Gesellschaft zu finden ist, jeder Ort der Gesellschaft nach ihr gestaltet und so auch gegen sie revolutionierbar ist. Nichtsdestotrotz muss sich eine Kritik der Gegenwart an den Kategorien der kapitalistischen Vergesellschaftung orientieren. Die Trennung von Basis und Überbau bleibt als Ideologie der kapitalistischen Arbeitsteilung unumgehbar. Die Behauptung ihrer Auflösung innerhalb der kapitalistischen Produktion bleibt als Flucht in den Überbau affirmative Utopie.
Der Ausschluss prekarisierter ungelernter Arbeiter aus dem Feld der Kulturproduktion steht in keinem Verhältnis zur Affirmation ihrer Prekarität auf kultureller Ebene durch den Euromayday. Die Solidarität ist auf der Ebene der Kultur hier zunächst einmal symbolisch und nicht materiell. Das Materielle wird – wie in einer Umkehrung der kapitalistischen Spaltung von Basis und Überbau – verkehrt: Es scheint nur noch Überbau als Ort der Vergemeinschaftung jenseits des materiellen Status zu geben. Zum strapazierten Bild der Putzfrau-Laptop-Überschneidung (Mayday-Plakat): Die Putzfrau mag einen Laptop haben, es ist allerdings unwahrscheinlich, dass sie ihn als Produktionsmittel und nicht nur als Konsumptionsmittel nutzt. Die Auflösung der Entgegensetzung von Kunst und Politik ist daher zwar revolutionsnotwendig, gleichzeitig aber unter Bedingungen der arbeitsteiligen Produktion nur negativ realisierbar: als Illusion der eigenen Freiheit im fest umsäumten Bereich der Selbstregulierung.
Daher wird auch meines Erachtens im Berliner Aufruf nicht zufällig der Staat angerufen, sondern dessen Anrufung resultiert daraus, dass seine historische Funktion scheinbar entproblematisiert wurde, dass die Selbstwahrnehmung aus dem Zentrum des prekären Lebens einen Subjektivismus vorschlägt, der die Lösung des Problems immer bereits voraussetzt: als seien Kunst und Politik bereits im Übergang, als sei der Staat bereits ad absurdum geführtes Relikt, als habe der Kapitalismus ex Negativo den Kommunismus bereits realisiert, und es gälte nun lediglich noch, die kulturelle Hegemonie zu erlangen. Doch die ursprüngliche Akkumulation ist nicht überwunden, Mehrwertproduktion und Arbeitsteilung garantieren weiter systematische Ausbeutung, und der Besitz eines Computers ist nicht identisch mit dem der Maschinerie. Eine Solidarisierung muss daher auch die Vereinzelung in Folge prekarisierter und zunehmend dequalifizierter Arbeit zum Ausgangspunkt nehmen, jedoch um von hieraus eine Solidarisierung zu organisieren, die die Putzfrau nicht noch um das gesellschaftliche Elend betrügt, indem sie vom Künstler repräsentiert wird.
Gerald Raunig: Die Trennung von Politik und Kultur scheint mir nicht »aufgehoben«, sondern ein Konstrukt, das in verschiedenen historischen und geopolitischen Kontexten immer neu formuliert wurde und wird. Es geht darum, Prekarisierung nicht als spezifisch neoliberales Phänomen zu begreifen, sondern als konstitutiven Bestandteil unter anderen kapitalistischer Verhältnisse seit ein paar hundert Jahren. Und ich würde in diesem Zusammenhang auch nicht von einer Vereinheitlichung der Produktionsbedingungen sprechen, viel eher von einem Ausufern multipler Formen der Prekarität. Das Prekäre ist keinesfalls eine identitäre, vereinheitlichende Figur, unter deren Banner sich »die Prekären« sammeln. In diesem Sinne kann der Begriff des »Prekariats« nur eine ironische Anspielung auf das unumkehrbare Verschwinden des glorreichen Proletariats sein. Ich sehe daher auch in Bezug auf »ungelernte Arbeiter« keinerlei »Affirmation ihrer Prekarität auf kultureller Ebene durch den Euromayday«. Die Projektionen von bürokratischen Intellektuellen auf die revolutionären Qualitäten proletarischer (und ich ergänze: weiblicher, postkolonialer, migrantischer, »schwarzer« etc.) Subjekte sollten der Vergangenheit angehören. Es gibt allerdings mehrere Argumente, die weniger eine Logik des Ausschlusses aus der Arbeit, als eine des Ausuferns, des Einschlusses in das Paradigma der Prekarität nahelegen.(7) Es geht hier nicht um einen Bezug auf ein – wie immer – historisches Gemeinsames, auch nicht um Solidarität und die soziale Kohärenz einer Klasse, sondern vielmehr um gegenwärtiges Werden von transversalen Kooperationen. Und das überschreitet immer auch die identifizierende Festlegung auf Putzfrau und -mann, die KulturproduzentIn, die MigrantIn, die SexarbeiterIn, etc.
Frank Engster: Statt einem Einstieg will ich einen Ausstieg versuchen, um zunächst einen Zugang zum 1. Mai und dem Euromayday zu finden; einen Zugang, der in der Kritik des Kapitalismus dessen antikapitalistische Kritik nicht außen vor lässt. Wie kann eine Kritik des Euromayday in Rücksicht darauf gelingen, dass auch die Kritik des Kapitalismus zu ihm gehört?
Setzt man den Euromayday der Mächtigkeit der historischen Kontinuität des 1. Mais aus, scheint er sich in eine Verfallsgeschichte einzureihen. Der 1. Mai ist dann, wie die Gesellschaftskritik mit revolutionärem Anspruch insgesamt, seit dem Niedergang der sozialistischen Bewegung in der Krise, und zwar nicht erst seit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten, auch nicht seit dem Überlaufen der Arbeiter zum NS. Die wirkliche Krise ist der unwiederbringliche Legitimationsverlust, den die Kategorie der Arbeit, der objektiven und historischen Notwendigkeit, des revolutionären Subjekts, kurz, den ein bestimmtes Revolutionsmodell ereilt hat. In das Vakuum sind die Neuen Sozialen Bewegungen der Nachkriegszeit getreten. Sie haben an die Stelle des revolutionären Subjekts neue Subjekte und Subjektivitäten, neue Kategorien und neue Formen des Protestes und der Rebellion gesetzt, bis schließlich alle Einzelnen als Einzelne und ohne jede Hierarchisierung der Ausdrucks- und Widerstandsformen angesprochen wurden. Die Multitude ist ein Begriff dafür. Indes kann nichts die Bedeutung der Ware Arbeitskraft und der Arbeiterklasse für die Revolutionstheorie ersetzen, somit auch nichts den Verlust einer Delegitimierung ausgleichen.
Allerdings hat diese Betrachtungsweise Voraussetzungen. Sie nimmt das Revolutionsmodell des Marxismus-Leninismus als Maß. Dessen Maß der Kapitalismuskritik – zugleich das Mittel zur praktischen Umsetzung der Kritik sowie zur Errichtung der sozialistischen Gesellschaft – war bekanntlich die Arbeit, deren Ausbeutung und das Subjekt der Arbeit. Dem ML sind aber die Maßstäbe und Mittel der Kapitalismuskritik von Anfang an bestritten worden, vor allem vom (kritischen) Marxismus selbst. In gewisser Weise hat sich diese Kritik sogar durchgesetzt. Jedenfalls werden Geschichte und Bedeutung des 1. Mai aus der Perspektive einer solchen Kritik anders lesbar, und die andere »Lesart«, oder schärfer, diese Methode bestimmt »unsere« Kritik.
Ansonsten herrscht unter uns allerdings Uneinigkeit, wie Entwicklungen wie der Euromayday zu bewerten und überhaupt begrifflich zu fassen sind, etwa das Verhältnis von Politik und Kultur darin. Über die Erwartungen an den Euromayday oder über dessen Potenzial herrscht anscheinend eher Klarheit, dafür gehen sie in unterschiedliche Richtungen. Vielleicht gelingt eine Verständigung, wenn man für einen Überblick jenseits dieser näheren Differenzen und Erwartungen sorgt. Dafür müssten 1. Mai und Euromayday zunächst von den Zumutungen befreit werden, die revolutionäre Ansprüche und radikale oder sozialistische Erwartungen mit sich bringen. Stattdessen ist er schlicht demjenigen Anspruch auszusetzen, den die Kapitalismuskritik an sich selbst stellen muss: Dass in ihrer Kritik sich der Kapitalismus gleichsam an sich selbst halten muss, so dass die kapitalistische Gesellschaft durch ihre Kritik zum Ausdruck kommt. Muss die Kritik sich ebenso an ihre gesellschaftlichen Konstitutionsbedingungen halten, wie sie das Kritisierte zum Ausdruck bringen muss, dann müsste die kapitalistische Gesellschaft gerade durch ihre Kritik zu einer angemessenen Darstellung gelangen. Ist der Euromayday mit all seinen Begleiterscheinungen in der Lage, sich mit der kritisierten Gesellschaft, dem Kapitalismus 2006, zu konfrontieren? Kann er sich selbst als Moment der aktuellen Entwicklungen und Umbrüche begreifen? Erhält umgekehrt der Kapitalismus hier eine Art Selbstkritik?
Diese Perspektive hat für sich, dass es gleichgültig ist, ob man Ausdrucks- und Protestformen wie den 1. Mai und den Euromayday samt ihrer Kritik und ihren Forderungen als Affirmation dessen betrachtet, was ohnehin gerade von den Produktions- und Verwertungsbedingungen gefordert wird, oder als Widerstand und Subversion dagegen. Zumindest sind wir in Bezug auf die bisherige Geschichte antikapitalistischer Kritik auf eine solche Unentschiedenheit angewiesen.
So wird die sozialistische Bewegung und die Arbeiterbewegung mittlerweile als Teil der kapitalistischen Durchsetzungsgeschichte rekonstruiert, mit allen Errungenschaften und Katastrophen. Wie auch immer man die letzteren beurteilt, es scheint jedenfalls die Ironie der Geschichte oder die List der Vernunft zu sein, dass sich noch jede antikapitalistische Bewegungen als Durchsetzungsmoment genau der Form hat rekonstruieren müssen, die überwunden werden sollte. Das gilt nicht nur für die Kämpfe der traditionellen Arbeiterbewegung. Lacan hat die rebellierenden Studenten der sechziger Jahre als Hysteriker bezeichnet, die nach einem neuen Herren verlangen. »Sie werden ihn erhalten«, hat er hinzugefügt. Die Studentenbewegung ist kein neuer Herr geworden, sie hat keinen neuen Staat gemacht und den alten erst nach einem langen Marsch übernommen. Aber sie hat – und das hatte Lacan im Auge – die »Wissens- und Informationsgesellschaft« eingeleitet. 68 markiert den Übergang, der in den Diskurs der Universität geführt und dem wissenden Blick der Studenten eine privilegierte Position einräumt hat. Wissen, Ausbildung und Qualifikation geltend heute als Hauptproduktivkraft und haben entsprechend unplanbare, kreative und dezentrierte Produktivkräfte hervorgerufen.
Ich denke, dass sich auch in der aktuellen Situation eine ähnliche Verschränkung zwischen – im weitesten Sinne – Produktionsweise und Gesellschaftskritik feststellen lässt, auch wenn das Aufrufen, wie etwa dem zum Euromayday in Berlin, kaum zu entnehmen ist. Hier wird in allen Forderungen durchgehend nach dem alten Herrn gerufen, ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, wer oder was da angerufen wird. Vor allem aber wird nicht gefragt, warum gerade der alte Herr, der Staat, sich geradezu als das prekäre Subjekt schlechthin präsentiert. Doch abgesehen von dieser unhinterfragten Übereinkunft zwischen Prekariern und ideellem Gesamtprekariat, die an die gute alte Übereinkunft zwischen den Arbeitern und dem ideellen Gesamtvertreter der Ware Arbeitskraft erinnert (der ja von der Kommunistischen Partei über die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften bis zum Sozialstaat reichte), abgesehen von dieser Übereinkunft gibt es noch eine andere und grundsätzlichere zu beobachten. Es fällt auf, dass die linke Gesellschaftskritik, genau wie die gegenwärtige Produktionsweise, um die produktive Kraft und Bedeutung der Grenze sowie der Differenz als Differenz kreist. Beiden geht es um die Besetzung eines Ortes, der sich entzieht und der als solcher unrepräsentierbar ist, der sich aber produktiv auswirkt, nämlich Bedeutung zeitigt und Sinn stiftet.
In der gegenwärtigen Produktionsweise (Produktion im weitesten Sinne, einschließlich Kunst, Dienstleistungen usw.) betrifft das etwa das Spiel der Zeichen und die performative Kraft der Sprache, die Programmierung und den Materialismus der Schrift, die Verarbeitung von Codes und Information u.ä. In der Gesellschaftskritik findet sich diese Produktionsweise in der Idee der Multitude oder des Prekariats, aber auch in all den anderen Grenzgängern, ob MigrantInnen, Sans Papier oder Queer, ob im Grenz-Camp oder der Street-Parade. Genauso ist die umgekehrte, negativ-gewendete Lesart möglich: Nicht der Kapitalismus, wohl aber die alte, fordistisch-industrielle Produktionsweise einschließlich ihrer staatlichen Verfassung befindet sich in der Krise oder zumindest im Umbruch; und genauso sind die gegenwärtigen Gestalten der radikalen Linken Ausdruck der Verlegenheit, dass eine standpunktfixierte, identitäre und essentialistische Kapitalismuskritik hinfällig geworden ist. Ohne das weiter auszuführen – entscheidend ist, zwischen der Kapitalismuskritik einerseits, unabhängig ihrer jeweiligen Form und Gestalt, und ihren kapitalistischen Konstitutionsbedingungen andererseits überhaupt eine Verbindung wie die eben skizzierte zu suchen.
Fußnoten:
(1) www.euromayday.org
(2) Gerald Raunig (Wien) ist als Philosoph und Kunsttheoretiker Co-Direktor des European Institute for Progressive Cultural Policies (eipcp). Zum Thema veröffentlichte er u.a. Kunst und Revolution. Künstlerischer Aktivismus im langen 20. Jahrhundert, Wien 2005.
(3) Vgl. Bernd Beier, Vom Aufstieg zum Fall. Die Bewegung der französischen Kulturprekären und die Kritik des Spektakels, in: Jungle World 8 (2006); Vorabdruck aus: Stephan Grigat u.a. (Hrsg.), Spektakel – Kunst – Gesellschaft. Guy Debord und die Situationistische Internationale, Verbrecher Verlag, Berlin 2006.
(4) GelegenheitsarbeiterInnen
(5) Genau das versucht etwa die Gruppe »kleines postfordistisches Drama (kpD)« (Brigitta Kuster, Isabell Lorey, Katja Reichard, Marion von Osten), deren Film »Kamera läuft!« im selben Jungle-World-Artikel als »symptomatisch für die Bewegung der deutschen Kulturprekären« denunziert wird. Wird von kpD ein erweiterter Begriff von »KulturproduzentInnen« propagiert, so läuft diese Erweiterung keineswegs auf eine diffuse Totalität aller Prekären als »KulturproduzentInnen« (oder umgekehrt) hinaus. Vielmehr wird hier in Anschluss an postoperaistische Theorieproduktion eine Kritik der Funktion von »KulturproduzentInnen« als (wie auch immer positiv oder negativ interpretierte) Avantgarde formuliert.
(6) Vgl. Benjamins Konzept der Ästhetisierung der Politik. kunst-klub 1, in: Phase 2.19 (2005).
(7) Für die Ausführung fehlt hier der Platz, aber zu ihnen gehören die »Zerstörung der Mittelschichten« nach Sergio Bologna, die doppelte Figur der Prekarität als Basis der Ausbeutung und als Aktivität des Widerstands bei Antonio Negri, die gleichzeitig prä- und transindividuelle Qualität von General Intellect, Sprache, Wissensproduktion bei Paolo Virno, etc.
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