Jene zwanziger Jahre

Die Vormoderne als Moderne nach der Postmoderne

Viele Bilder, die heute als Revival der Zwanziger wiederholt werden, scheinen den Wunsch nach einer sicheren bürgerlichen Lebensweise zu illustrieren: Indem sich bei der Antimoderne bedient wird, möchte man modern sein.

Die »Modern Times« – das waren die zwanziger Jahre, die mit rasanten technischen Fortschritten den Menschen das Radio, den Flugverkehr, die Schlagermusik, den Tonfilm und die Einbauküche brachten, die zu ihrem Ende hin eine neue, allgemeinverbindliche Kultur der Angestellten etablierten, mit der sich jede Verkäuferin und jeder Fabrikarbeiter jenseits der objektiven Klassenlage seine subjektiven Vergnügen in der Freizeit ausstaffieren konnte; das waren die zwanziger Jahre, in denen trotz Weltwirtschaftskrise die Menschen sich genügsam auf die Glücksversprechen der neuen Konsumgesellschaft einließen; das waren die zwanziger Jahre nach dem Ersten Weltkrieg und vor dem Zweiten (die Eric Hobsbawm gerade mit Blick auf die globalen sozialen Verhältnisse der Zwanziger als einen großen Weltkrieg darstellt), das waren die Jahre, in denen das Experiment der Sowjetgesellschaft misslang, die Arbeiterbewegung sich gegen das »raffende Kapital« auf die schaffende Kraft der Arbeit kaprizierte, und der Faschismus in Italien schonmal vorlegte, was die Deutschen in systematischer Wert- und Vernichtungsarbeit ab 1933 dann gründlicher machten, etc.

In den zwanziger Jahren konzentrierte sich in einer bislang nicht gekannten historischen Dichte die später von Adorno und Horkheimer als solche beschriebene Dialektik der Aufklärung. Zu ihr gehört, dass nach 1945 sowohl progressive, demokratische, auch sozialistische Kräfte, als auch Reaktionäre und Faschisten an die Zwanziger anschließen wollten: Nicht zuletzt, weil hier eine zurückgelassene Moderne vermutet wurde, um deren Rettung oder wenigstens Wiederbelebung man sich bemühte, redlich – kulturell und politisch.

Schon Anfang der sechziger Jahre, wo eben gerade versucht wurde, Deutschland und die deutsche Kulturnation wie deutsche Nationalkultur über den Rückgriff auf die zwanziger Jahre zu restaurieren, verwies Adorno darauf, wie falsch und auch verlogen solche Wiederbelebungsversuche sind: Keineswegs seien die Zwanziger die unbedingte Hochzeit etwa der künstlerischen Moderne (auf die man sich, selbst in konservativen Kreisen, seit der Nachkriegszeit bis heute als Kanon der »modernen Kunst« geeinigt hat); der Aufbruch in der Kunst fand bereits um 1910, also vor dem Ersten Weltkrieg statt. Mithin sind die Avantgarde-Bewegungen der Zwanziger allesamt – und das bekannteste Beispiel ist nach wie vor der Surrealismus – Bewegungen des Scheiterns, und zwar des ästhetischen wie politischen Scheiterns. Kurzum: die zwanziger Jahre sind bereits eine Krisenzeit – nicht erst mit Beginn der Weltwirtschaftskrise, nicht erst seit den ersten großen Wahlerfolgen der Nazis.

Und dennoch sind die zwanziger Jahre gleichwohl ein Jahrzehnt, in denen sich durchaus emanzipatorische Hoffnung kristallisierte, formuliert als kritische Theorie und kritische Praxis gleichermaßen (Ernst Blochs ›Geist der Utopie‹, Georg Lukács’ ›Geschichte und Klassenbewusstsein‹, Gründung des Instituts für Sozialforschung etc.). Überdies kommt nicht von ungefähr, dass in den Zwanzigern sowohl der Amerikanismus als auch der Antiamerikanismus ihren Ursprung haben.

Für Unbehagen sorgte etwa die Neue Sachlichkeit; überhaupt war noch unentschieden, gerade im expressionistisch eingefärbten deutschen Kulturmilieu, welche Gefahren oder Segnungen die technischen Rationalisierungen mit sich brachten, von denen aus Amerika berichtet wurde. Was sich hernach in den Zwanzigern als Moderne konstituierte, war vor allem die Gestaltung einer Gesellschaft, die sowohl vom Expressiven (Ausdruck) geprägt war, als auch von der Versachlichung und Verwaltung. Behaviorismus und Funktionalismus sind dafür die beiden Schlagworte, die zugleich Strategien bezeichnen, einen neuen Menschentypus zu formen, der sich bequem mit einem genormten Haushalt an Emotionen auf die neuen Standards des so genannten modern way of life einlässt, dessen Verhalten individuell wild und »roaring« ist, kollektiv, als Masse, aber geordnet und berechenbar.

Von der kritischen Theorie wurde das schon früh an der Moderne als die ihr eigentümliche Kälte identifiziert – eine Kälte, wie sie Maschinen zugeschrieben wird (tatsächlich sprach man jetzt auch schon vorsichtig vom Maschinenzeitalter). Die Zwanziger haben so Bilder hervorgebracht, die dann zu späteren Entwicklungsstufen der technologischen Rationalität wie rationalisierten Technologie wieder aufgerufen wurden: Ende der Siebziger, mit Beginn der Ausweitung von Mikroelektronik, Digitalisierung und Informationstechnik, am Anfang der postmodernen Epoche, waren das direkte Bezüge auf Fritz Langs Vision vom Maschinenmenschen in ›Metropolis‹ von 1927: Kraftwerk machten, quasi als Soundtrack zum Film nachgereicht, 1978 ein ganzes Album zum Thema – ›Die Mensch-Maschine‹, und Ridley Scott zitierte im ›Blade Runner‹ 1982 ganze Sequenzen mit Stadtansichten aus ›Metropolis‹.

Mittlerweile hat sich die Bezugsperspektive auf die Zwanziger beziehungsweise auf die mit der zeitlichen Signatur der Zwanziger verbundene »Moderne« ideologisch gewandelt: Man blickt nicht mehr kritisch und auch nicht zynisch-katastrophisch zurück, sondern im Sinne eines fröhlichen Positivismus nach vorn, als ginge es darum, mit den zwanziger Jahren auch den affirmativen Charakter der Kultur der Moderne zu erneuern oder wiederzuerwecken.

Man wünscht sich scheinbar ein bürgerliches Leben zurück, nicht spießig selbstverständlich, sondern modern und behaglich. Die Moderne der Zwanziger ist dafür die Tapete; sie wird als Accessoire zitiert, und das heißt verfilmt oder musealisiert, hingestellt und ausgestellt. Mit einem anderen Wort: die Moderne wird kombiniert – und zwar kombiniert mit ihren eigenen Zerfallsformen. Das moderne Geschirr, der Stahlrohr-Sessel, die Bauhaus-Lampe, Art déco, Chanel No. 5 können ohne weiteres in eine aus den historischen Fugen geratene Postmoderne eingebaut werden, sind gleichsam Erinnerungsstücke an eine Moderne mit Versicherung der bürgerlichen Existenz – die es allerdings auch in den zwanziger Jahren schon nicht gab.

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