Die Welt als Text und der Text als Welt.
Umberto Ecos ›Streit der Interpretationen‹

Der neunzehnhundertzweiunddreißig geborene Umberto Eco wurde nicht nur als Schriftsteller durch Romane wie ›Der Name der Rose‹ von 1980 oder ›Das Foucaultsche Pendel‹ von 1988 bekannt, sondern durch seine zahlreichen theoretischen, gesellschafts- und kulturkritischen Arbeiten auch als Literaturwissenschaftler. Dabei gehört er nicht nur zu den weltweit wichtigsten Vertretern seines Faches, sondern – und das ist entscheidend – er gehört zu jenen, die mit ihren Theorien die aus der Literaturwissenschaft über ihren eigentlichen Gegenstand hinaus, nämlich eben die Literatur, in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts nachgerade eine Leitdisziplin der Humanwissenschaften gemacht haben. Bereits zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hatte die Philosophie ihre Stellung als so genannte Königin der Wissenschaft längst verloren; bei Nietzsche, der ja von Haus aus Philologe war, findet die Krise der Philosophie ihren drastischen Ausdruck. Mit der Katastrophe des Weltkriegs und des systematischen Massenmords zeigt sich in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts, dass die Philosophie zu den Problemen der Menschheit kaum etwas beizutragen hat, außer ihrer Selbstaufhebung. In dieser Situation waren es, vor allem in den Vereinigten Staaten, aber auch in Europa, Literaturwissenschaftler, die zu gesellschaftlichen Themen Stellung bezogen und neue Begriffe in die Diskussion brachten: In den fünfziger Jahren etablierte Marshall McLuhan die Medientheorie, sprach dann vom Ende der Gutenberg-Galaxis; die Rede war vom Informationszeitalter; Irving Howe und Harry Levin benutzten als erste den Begriff ›Postmoderne‹ – Ihab Hassan und Leslie Fiedler machten ihn als gesellschaftstheoretischen Begriff bekannt; der Kritiker Lawrence Alloway bringt den Begriff ›Pop‹ von London nach New York; in Großbritannien sind es Literaturwissenschaftler wie Raymond Williams oder Richard Hoggart, die den Forschungsbereich der so genannten Cultural Studies, also Kulturwissenschaften etablieren. Auch in Frankreich ist die Grenze zwischen Literaturwissenschaft und Gesellschaftstheorie längst überschritten, man denke an Sartre, de Beauvoire oder Bataille. Später, zum Ende der sechziger Jahre, prägt Roland Barthes die entscheidende These vom ›Tod des Autors‹. Auch der dann durch Derrida berühmt wie berüchtigt gewordene Ansatz der Dekonstruktion hat seinen Ursprung in der modernen Literaturtheorie. Maßgeblich für alle diese Ansätze ist die Überschreitung des Literarischen in die Welt, beziehungsweise umgekehrt: der Versuch, die Welt als Text zu begreifen, das Soziale wie Schrift zu lesen. Vorausgegangen war dem, wie eben schon gesagt, die Selbstauflösung der Philosophie: dies ist ein Prozess, der sich wesentlich über und in die Sprache vollzog. Das heißt in ihren Extremen, in Positivismus und Ontologie, löste sich im zwanzigsten Jahrhundert die bürgerliche Philosophie in Sprachphilosophie auf, in Linguistik; und als Linguistik wird sie zur Gesellschaftstheorie gewendet – wie man an Philosophen wie Ludwig Wittgenstein oder Martin Heidegger, die hier gewissermaßen die Pole bilden, leicht nachvollziehen kann, mündet dies allerdings weder in einer materialistischen Kritik der Sprache, noch in einem kritischen Materialismus der sozialen Verhältnisse, sondern in einem schlechten Idealismus als Ideologie. (Eine Ausnahme bildet hier die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ von Ernst Cassirer.)

Die Deutung der Welt als Text wird in den fünfziger Jahren überdies noch unterfüttert durch die Entwicklungen der Mikroelektronik und Computertechnologie. Nicht nur in den so genannten Neuen Medien hat man es mit immer mehr Verschriftlichungen der Welt zu tun, sondern über die Fortschritte der Kybernetik werden die Maschinensprachen, die Informatik, die Programm- und Programmiersprachen immer wichtiger – und dass sich die soziale Welt eigentlich nicht anders als ein Computer verhält, wird schon in diesen Jahren zur zentralen Ideologie des so genannten Informationszeitalters. Mit der These von der Welt als Text, beziehungsweise als lesbarer Text, wird aber auch der Textbegriff der Literaturwissenschaft erweitert und damit die Literaturwissenschaft immanent transformiert, nämlich zur Semiotik. Als zentrales Problem hat die Semiotik es immer wieder nicht nur mit der Grundsatzfrage zu tun, ob denn überhaupt irgendetwas lesbar ist, lesbar sein kann, sondern allgemein mit dem Problem der Bedeutung und Deutbarkeit im Sinne der Interpretation.

Hier kommt Umberto Eco ins Spiel: als Literaturwissenschaftler, als Semiotiker, als Theoretiker der Interpretation. 1986 hielt er Vorträge in Konstanz, aus denen der Essayband ›Streit der Interpretationen‹ hervorging, jetzt neu übersetzt von Rolf Eichler und mit einer Einleitung von Dieter Mersch versehen als Buch erschienen.

In den drei Abhandlungen diskutiert Eco die Grenzen der Interpretation. Dies, so muss man hinzusetzen, macht er in einer semiotischen Perspektive, die von Gesellschaftskritik nicht zu trennen ist und – wie man es eben auch aus der Vielschichtigkeit seines Romans ›Der Name der Rose‹ kennt – immer auch Kritik der Geschichte ist. Als Semiotiker hat sich Eco zudem vollständig von den Wertungskriterien der Hoch- und Massenkultur gelöst; er interessiert sich für Übergänge und Kongruenzen – seine Aufsatzsammlung ›Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur‹ von 1964, erweitert 1978 (deutsch 1984) setzte für eine kritische Theorie der Popkultur Maßstäbe; zu verweisen ist zudem auf das Gespräch, das Maria José Ragué Arias mit Umberto Eco bereits 1975 über Popkultur führte, das später – heute leider vergriffen – im Rowohltverlag erschien.1) Eco richtet sein Augenmerk auch auf historische Überschneidungen, die in semiotischer Sicht erkennbar werden: In der Postmoderne schließlich entdeckte er Parallelen zum Mittelalter, beziehungsweise deutete er die Postmoderne als Neues Mittelalter.2)

Die Grenzen der Interpretation zu problematisieren, heißt nicht nur auf Widersprüche, Schwachstellen, Lücken der Interpretation zu verweisen, sondern bedeutet gleichzeitig ihre gesellschaftliche Kritik: das kann einmal grundsätzlich auf die Forderung ›Gegen Interpretation‹ hinauslaufen, die Susan Sontag 1966 erhob (und sie setzte gegen die Interpretation die Erotik – beschränkte sich aber auf die Kunst)3). Das heißt aber vor allem, nach der berühmten elften Feuerbachthese von Marx, über das bloße Interpretieren hinaus die Welt zu verändern.4)

Eco schließt dieses Postulat in seinen Begriff der Interpretation mit ein: Interpretation bedeutet Weltverstehen als Weltveränderung. Damit ist aber die Problematik der Interpretation, das, was Eco hier den ›Streit der Interpretationen‹ nennt, keineswegs beseitigt, wie sich bereits im Rückblick auf das Mittelalter – mit seinen zentralen Interpretationstheorien in Bezug auf die biblischen Texte als Hermeneutik – zeigt.

Eco konstatiert: »Das Mittelalter irrte sich, als es die Welt als Text verstand, die Moderne irrt, wenn sie den Text als Welt betrachtet.« (S. 46) Mit der wie auch immer reziproken Beziehung der Welt auf den Text und umgekehrt ist es nämlich mitnichten getan. Deshalb resümiert Eco gleichsam: »Texte sind der menschliche Versuch, die Welt auf ein handliches Format zu bringen, das zugleich offen ist für die intersubjektive, erläuternde Rede. Wenn also Symbole in einen Text eingefügt werden, dann gibt es vielleicht keinen Weg zu bestimmen, welche der Interpretationen, die sie evozieren, als ›gut‹ zu bezeichnen wäre. Man kann jedoch immer auf der Basis des Kontextes entscheiden, welche Interpretation nicht dem Versuch nach Verständnis ›dieses‹ Textes entspringt, sondern eher einer halluzinatorischen Reaktion der Adressaten.« (S. 46) – Das gilt nicht nur gleichermaßen für einen Kirchentext des Mittelalters wie für die Folge einer Telenovela, sondern bezeichnet auch die politische Dimension des Interpretationsproblems, eine Hermeneutik des kritischen Diskurses, die Interpretation als Konstruktion verteidigt und damit dem Bestreben widerspricht, sie gänzlich im assoziativen Jargon aufzulösen. Verwandelt sich Interpretation in Überzeugung wird sie Ideologie (nach Benjamins Wort »unfruchtbar«), verflüchtigt sie sich in der bloßen Behauptung fällt sie zur Dummheit zurück. Da allerdings solche Ideologie und Dummheit, häufig im Namen von Poststrukturalismus und Dekonstruktion, als Besserwisserei und Narzissmus in den linken Debatten sich ausgebreitet hat, können Ecos Abhandlungen auch zur politischen Diskussion empfohlen werden. Das wäre der Streit der Interpretationen als Aneignung.

[Erstsendung: 28. September 2007; Radiobücherkiste 10.00 bis 12.00 Uhr. Sprechzeit: 10:23 Minuten]
  1. Vgl. Maria José Ragué Arias, ›Pop. Kunst und Kultur der Jugend‹, Reinbek bei Hamburg 1978. (↑)
  2. Umberto Eco, ›Auf dem Weg zu einem Neuen Mittelalter‹, in: Ders., ›Gott und die Welt‹, München und Wien 1985, S. 7 ff. (↑)
  3. Vgl. Susan Sontag, ›Gegen Interpretation‹, in: Dies., ›Kunst und Antikunst‹, Frankfurt am Main 1991, S. 22. (↑)
  4. Vgl. vgl. Marx, ›Thesen über Feuerbach‹, in: MEW Bd. 3, S. 7. (↑)

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Umberto Eco, ›Streit der Interpretationen‹, aus dem Englischen übersetzt von Rolf Eichler, Philo Verlag (EVA): Hamburg 2005, 119 S. brosch.