Eine Hölle namens Europa

Markus Metz und Georg Seeßlen haben ein weiteres Buch zusammen geschrieben. Es liegt in der gesellschaftlichen Natur der Sache, dass das, was sich bei ›Blödmaschinen‹ schon längst anzeigte und eigentlich, soweit ich es überblicken kann, ohnehin bei allen Publikationen von Seeßlen virulent ist: dass die Themen, die sich aufdrängen, mit Kulturkritik nichts mehr zu tun haben, weil sie mit Kultur nichts mehr zu tun haben: Metz und Seeßlen setzen fort, was Günther Anders vor sechzig Jahren, 1956, in ›Die Antiquiertheit des Menschen‹ für sein eigenes Vorgehen einmal als Mischung aus Metaphysik und Journalismus bezeichnete (was er dann »Gelegenheitsphilosophie« nannte). Mit anderen Worten – Metz und Seeßlen machen Gesellschaftskritik, und zwar als kritische Theorie. Die unter dem Etikett »Kultur« zusammen gefassten Phänomene, bei denen Metz und Seeßlen sich ja auskennen (auch kann man gerne lesen, was Seeßlen zum Tod von Bud Spencer und dem italienischen Hau-drauf-Kino der 1970er/1980er bei ›Zeit online‹ schrieb; oder was Metz und Seeßlen unlängst über Erika Fuchs, Donald, D.O.N.A.L.D. und die räumlich-zeitliche Lage von Entenhausen fürs Radio produzierten), – also diese Phänomene, unter »Kultur« subsumiert, sind bloß Symptome (wenn sie nicht doch auch gute Unterhaltung sind) für soziale Bewusstseinslagen, kurzum: Ideologie. Und wie sich jetzt mal wieder zeigt: grausige Ideologie.
›Hass und Hoffnung‹ heißt das neue Buch von Metz und Seeßlen. Bei Bertz + Fischer in Berlin erschienen. Der Verlag verlinkt einen Textauszug, den »Prolog«; außerdem hat Seeßlen zu dem Buch bzw. Thema des Buches auf ›Spiegel online‹ sich geäußert, in einem Interview.
Zwei Zitate. Erstens:
»Europa hat sich nicht als kultureller und politischer Fortschritt, sondern als barbarischer, korrupter und amoralischer Rückfall realisiert. Dieses Scheitern hat jetzt Bilder: ertrunkene Menschen, offene Polizeigewalt allerorten, Lager, Stacheldraht, brennende Unterkünfte, grölende Faschisten, furchtbarer Politiker-Jargon. Es gibt Menschen und Institutionen, die helfen, keine Frage. Aber sie können es weder praktisch noch moralisch im Namen Europas tun.« (S. 10)
Zweitens:
»Der Weltuntergang … passiert nicht bei den Flüchtlingen, sondern genau auf der entgegengesetzten Seite: Dadurch, dass Europa sich abschottet, dass es sich wieder nationalisiert, dass es einen halbfaschistischen Sumpf zulässt … Indem man Europa in eine Festung verwandelt, verstärkt man diesen inneren Zerfallsprozess. Seine Ursache sind nicht die Flüchtlinge. Die sind nur der willkommene Brandbeschleuniger von sozialen Konflikten, die vorher schon da waren.« (›Spiegel online‹)
Darum geht es. Rezension folgt.
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Hier nur dies noch. – Im »Prolog« von ›Hass und Hoffnung‹ heißt es weiter:
»Menschen, deren Lebenswelt nicht ohne Zutun Europas in eine Hölle verwandelt wurde, suchen Zuflucht in diesem Europa und finden, wenn sie Glück haben, Politiker vor, die Abschiebung, Rückführung und Abschreckung im Munde führen, von ›Abschiebelagern‹ reden, ohne vor Scham im Boden zu versinken, und Souveränität simulieren, indem sie Flüchtlinge wie lästige Kostgänger behandeln, ihnen Arbeit, Bildung, Selbstbestimmung verweigern. Wenn sie Pech haben, finden sie nur eine neue Hölle. Eine Hölle namens Europa.« (S. 12)
Das ist es, was irritiert: Die Unverfrorenheit, mit der Menschen über andere Menschen in einer Sprache urteilen, die sich aus Verwaltungsjargon und brutalem Neusprech zusammensetzt, einer Sprache nämlich, die schon in ihrer Semantik entmenschlichend ist und einiges gemeinsam hat, auch reichlich Vokabeln, mit der LTI, über die Victor Klemperer schrieb. Und zwar eben »ohne vor Scham im Boden zu versinken«.
Die eigentlich ja strafrechtlich relevante Idee, Menschen an der Grenze doch gleich zu erschießen, die wohl auch wesentlich zum Wahlerfolg der AfD beiträgt, ist das eine.
Das andere ist, mit welcher Leichtigkeit und Nonchalance die mörderische Menschenverachtung, nach einem nur kurzen moralischen Schrecken der Empörung, in die öffentlichen, also halb-, rest- und scheinöffentlichen Diskurse eingespeist wird. Neulich hörte ich einen Kommentar auf NDR Info, wo eine junge Frauenstimme sich aufplusterte, dass so etwas wie die AfD, also auch das Bewusstsein, für das diese Partei Symptom, nein Syndrom ist und das sie zugleich reproduziert, eine, so wörtlich »lebendige Demokratie aushalten« müsse (was ja, nebenbei, wenn man für seine Urteilfähigkeit auch nur eine der beiden Hirnhälften benutzt, ziemlich Schwachsinn ist, weil eben das faktisch die »lebendige Demokratie«, wenn damit die politische Verfasstheit der Bundesrepublik gemeint sein soll, eben nicht aushält, wofür ja gerade der Wahlerfolg der AfD der Beleg ist: diese Partei wird ja nicht gewählt quasi als Probe auf die politische Resilienz des Parlamentarismus, sondern weil sie eine Form von Politik propagiert und ausführt, welche die Demokratie offensiv – das ist der wesentliche Zug des politischen Programms – angreift und auszuhebeln bestrebt ist: sei’s durch antisemitisches und rassistisches Gerede (»Meinungen«), sei’s durch Unfähigkeit und dadurch verursachte Lähmung des parlamentarischen Geschäfts, oder sei’s einfach durch den Populismus, der bereits terminologisch die Ersetzung der Demokratie androht). Nein, Menschen, die Flüchtlinge bestenfalls als Flüchtlinge akzeptieren, nie aber auch als Menschen, die in Rage geraten und sich mokieren, wenn nicht eingesehen wird, es bei den Flüchtlingen mit einer Flüchtlingskrise, einem Flüchtlingsproblem, ja einer Plage zu tun zu haben: so ist es nachzulesen in all den hunderten Einträgen in den Kommentarspalten der Netzausgaben der Zeitungen, zum Beispiel eben auch in der Kommentarspalte zum Seeßlen-Interview auf ›Spiegel online‹: Bei den 220 Kommentaren wird viel geraunt; Seeßlen ist der Idiot, der es irgendwie nicht wahrhaben will, viel »Man sei ja selber … aber …«-Banalrhetorik, und immer wieder echauffiert man sich über Sätze wie: »Dabei sollte es eine demokratische Selbstverständlichkeit sein, Menschen aufzunehmen, die aus elenden Verhältnissen kommen. Die Probleme wären durchaus zu überblicken und zu bewältigen. Natürlich wird sich unsere Gesellschaft durch die Flüchtlinge verändern. Sie wird nicht mehr sein, was sie vorher war. Aber das ist kein Weltuntergang.« Das sehen viele anders: es sei selbstverständlich keine Selbstverständlichkeit, Menschen zu helfen; die Probleme sind nicht zu überblicken (jeder Flüchtling, der es über die Grenze schafft, ist ein Problem mehr). Ja, es ist der Weltuntergang, zumindest Abendland etc. – Und freilich fehlen auch die Kommentare nicht, die das, was Seeßlen als halbfaschistisch entlarvt, entweder klugscheißerisch monieren (einer fragt, ob es auch Viertelfaschisten gebe), oder dummschwätzerisch parieren: bei den Linken sei es doch genauso (ggf. mit Zusatz: siehe Seeßlen …).
Da bekommt ›Hass und Hoffnung‹ seine besten Rezensionen gleichsam von der Blödmaschine Internet automatisch oder zumindest doch reflexhaft geliefert.
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Im Übrigen wären der Gesellschaftscharakter, der sich etwa in der Kommentarfunktion Luft und Lust verschafft, in Hinblick auf die technische Logik dieser Kommentarfunktion zu beleuchten.
Eventuell wird man, ausgehend von den Studien zum autoritären Charakter, Adornos Notizen zur neuen Anthropologie, Marcuses ›Triebstruktur und Gesellschaft‹ und Brückners ›Sozialpsychologie des Kapitalismus‹, präzisieren können über Begriffe wie:
• digitaler Konformismus,
• technologisch-rationaler Narzissmus,
• instrumenteller Autoritarismus.
Das wäre auszuführen und zu untersuchen. (Ebenso die Frage, warum sich nicht daran eine Bildungsdebatte entzündet, statt an irgendwelchen PISA-Ergebnissen.)
Man kann auch von Metz und Seeßlen die ›Blödmaschinen‹ lesen, oder eben das Spiegelinterview (Georg Seeßlen, ›Diskurs über die AfD: ›Halbfaschistischer Sumpf‹, ein Interview von Benjamin Moldenhauer), oder eben:
Markus Metz & Georg Seeßlen, ›Hass und Hoffnung. Deutschland, Europa und die Flüchtlinge‹, Bertz + Fischer: Berlin 2016, 290 S. brosch., mit 19 Fotos.
Zum Buch: hier.

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Markus Metz & Georg Seeßlen, ›Hass und Hoffnung. Deutschland, Europa und die Flüchtlinge‹, Bertz + Fischer: Berlin 2016, 290 S. brosch.