Freibaduniversität August 2006

Marcuses Nietzsche
Anmerkungen zu Herbert Marcuses Nietzschelektüre



»Nietzsche hat wie wenige seit Hegel die Dialektik der Aufklärung erkannt.« Adorno und Horkheimer, ›Dialektik der Aufklärung‹ (GS Bd. 3, S. 62)

»Zukunft ist von außen wiederkehrende Erinnerung; deshalb hat die Gedächtnislosigkeit keine.« Ulrich Sonnemann

Das Verhältnis der kritischen Theorie zu Friedrich Nietzsche ist ambivalent: sein Denken ist einerseits Zeugnis der Krise der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer ideologischen Regression, andererseits der tragische Versuch, das kritische Bewusstsein vor eben dieser Regression zu retten. Nietzsche steht für die Verteidigung des Menschen gegen die Bedrohung durch die unheilvolle Gewalt der Geschichte, die im 19. Jahrhundert freigesetzt wurde und im 20. Jahrhundert in der Massenvernichtung kulminierte; zugleich findet diese Vernichtung in Nietzsches Antiphilosophie ihre verzerrte Antizipation. Nietzsches Denk- und Lebensweg, so ließe sich bündig sagen, ist Ausdruck dieser Krise der bürgerlichen Gesellschaft selbst: Er wird 1844 geboren, also in dem Jahr, in dem Marx im Pariser Exil seine ›Ökonomisch-philosophischen Manuskripte‹ verfasst, wenige Jahre vor der dann scheiternden deutschen Revolution; er stirbt 1900 geistig umnachtet in Weimar, im geschichtlichen Zenit einer zum Imperialismus ausgewachsenen bürgerlichen Weltordnung; Sigmund Freud veröffentlicht in Nietzsches Todesjahr seine ›Traumdeutung‹. Die Unwegsamkeiten Friedrich Nietzsches Biografie haben ihren Abdruck im philosophischen Konstruktionsplan seines Projekts der Umwertung aller Werte hinterlassen und bestimmen schließlich die kritische Rezeption: Er ist dialektisch zu verstehen, ohne dass er selbst Dialektiker war; er ist fernerhin materialistisch zu übersetzen, obgleich er den Materialismus ablehnte; er ist historisch zu lesen, gerade weil er die bürgerliche Geschichtsphilosophie irritierte und ihre gewaltsame Ideologie vom linearen Fortschritt mit dem radikalen Konzept der Wiederkehr korrigierte. In dieser Widersprüchlichkeit hat Nietzsche Eingang in die kritische Theorie gefunden (wobei ich mit »kritische Theorie« jene Theorie der Gesellschaft bezeichne, die Max Horkheimer und Herbert Marcuse in den Aufsätzen ›Traditionelle und kritische Theorie‹ sowie ›Philosophie und kritische Theorie‹ – beide erschienen 1937 in der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ im Anschluss an die Kritik der politischen Ökonomie nach Karl Marx entworfen haben).

(Der vollständige Text kann als PDF angefordert werden.)

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