Hallenbaduniversität
Dezember 2008

Sendetermin: 3. Dezember 2008. FSK.

Vortrag: Erziehung zur Müdigkeit …

Auszug:
Es heißt in der Überschrift tatsächlich »Erziehung zur Müdigkeit«; ältere Versionen des marktführenden Textverarbeitungsprogramms ›Microsoft Word‹ zeigten das Wort ›Mündigkeit‹ als Fehler an und schlugen vor, es in ›Müdigkeit‹ zu korrigieren, oder änderten Mündigkeit gleich automatisch in Müdigkeit. Ein banaler Korrekturfehler, der scheinbar nichts mit dem Inhalt zu tun hat und zunächst nur peinlich für den Autor werden kann, wenn er etwa den Titel des Gesprächs zwischen Theodor W. Adorno und Hellmut Becker ›Erziehung zur Mündigkeit‹ zitieren wollte. Gleichwohl ist der falsche Fehler und seine unkorrekte Korrektur in mehrerlei Hinsicht bezeichnend für den Komplex von Bildung und Erziehung heute: Zwischen der Wachheit der Mündigkeit desjenigen, der für sich selber zu sprechen vermag, und der Müdigkeit als Verdrossenheit des Ohnmächtigen und Schlaftrunkenen besteht also trotz aller Zufälligkeit der nur durch einen Buchstaben unterschiedenen Wörter ein Zusammenhang: Es ist der gesellschaftliche Gesamtzusammenhang, in dem sich genau die spezifische Konstellation der Ideologie der Bildung und der Wissenschaft in der gegenwärtigen Phase des Kapitalismus manifestiert. Dass der Korrekturfehler von einer Rechenmaschine vorgeschlagen wird, also eben einem Gerät, welches nicht nur Bildung und Wissen maßgeblich revolutioniert haben soll, ist delikat: Es ist ja keineswegs der amüsante Fauxpas aus den Kindertagen der Computertechnologie, sondern wir befinden uns inmitten der Hochzeit der mikroelektronischen Durchdringung des sozialen Lebens, in der umfangreiche Rechtschreibdatenbanken das programmatische Wort der Aufklärung »Mündigkeit« nicht kennen; das Versagen des »postmodernen Wissens« (vgl. Lyotard 1979): ausgerechnet in dem Augenblick, wo das Zeitalter der Aufklärung vermittels computertechnischer Beihilfe mit dem Informationszeitalter konvergiert, schlägt also ein Apparat vor, Mündigkeit in Müdigkeit zu übersetzen.
Müdigkeit, im direkten wie übertragenen Sinn, wird allenthalben beklagt: Kinder und Jugendliche sind unkonzentriert, verweigern in unterschiedlichster Weise die Aufmerksamkeit. Das reicht von schlechten schulischen Leistungen bis zur Jugendkriminalität und Gewalt an Schulen. Eltern sind scheinbar müde, ihren Kindern entsprechende soziale Kompetenz beizubringen, und auch die Lehrer sind müde – burn out. Häufig ist von der Politikverdrossenheit die Rede, von einer sozialen Müdigkeit als schwindendes Solidargefühl, ebenso wie von mangelnder Allgemeinbildung und fehlender Qualifikation für eine veränderte kapitalistische Arbeitswelt. Inmitten einer so genannten Wissensgesellschaft zeigen Studien wie PISA, dass die Menschen eigentlich zu wenig wissen, um angemessen in die kapitalistische Verwertungslogik eingespannt werden zu können. Heute ist es die Ökonomie, die ohne Umwege ihre Forderungen an Schule und Universität stellt: kein bürgerlich-humanistisches Bildungsideal ist mehr zwischengeschaltet, wenn bemängelt wird, dass die Schüler und Studenten für die optimal-effiziente Anpassung ans ökonomische Prinzip zu dumm sind, oder zu schlau, wenn sie sich nicht ganz widerspruchslos von der Notwendigkeit sozialer Verschlechterung überzeugen lassen wollen. Das ökonomische Interesse kann deshalb so rückhaltlos formuliert werden, weil es nicht mehr von außen in die gesellschaftlichen Bereiche wie den Bildungssektor eindringt, die vielleicht einmal von ökonomischer Effizienz und Konkurrenz verschont waren. Längst hat das ökonomische Prinzip die Gesellschaft als Ganze erfasst. Privatisierung und wirtschaftliche Regelungen wie Studienkonten oder Bildungsdarlehen mögen neu und für die Entwicklung der letzten Jahre dramatisch sein – für das grundsätzliche Verhältnis von Bildung und kapitalistischer Gesellschaft sind die ihnen zugrunde liegenden Prinzipien seit längerer Zeit etabliert.
Das bedeutet für Bildung im emphatischen Sinne ihres humanistischen Ideals nicht eine neue Situation der Bedrohung, sondern muss als immanentes Problem des modernen Bildungskonzeptes begriffen werden: Es ist der grundsätzliche ›Widerspruch zwischen Bildung und Herrschaft‹, den Heinz-Joachim Heydorn als negative Dialektik des humanistischen Bildungsideals beschrieben hat (vgl. Heydorn 1995). Nicht nur befindet sich die Idee der Bildung im Widerspruch zu einer bildungsfeindlichen Realität, sondern in der idealistischen Konstruktion des Bildungsbegriffs ist der gesellschaftliche Antagonismus bereits enthalten. Der Widerspruch von Bildung und Herrschaft ist ein dialektischer: Bildung ist herrschaftskritisch und bestätigt zugleich die bürgerlichen Herrschaftsverhältnisse; Bildung ist Selbstbefreiung und Anpassung an die bestehende Ordnung. Bildung ist Formation des Subjekts, Selbstentfaltung des Individuums (Humboldt), Stufengang des Selbstbewusstseins (Hegel), Perfektibilität des erst noch werdenden Menschen (Rousseau, Herder), sinnlich-praktische Tätigkeit (Marx): das ist emanzipatorische Logik des Bildungsbegriffs als revolutionäre, nämlich den Menschen selbst verändernde Prozesskategorie. Doch die vom Verwertungsprozess bestimmte Logik der Gesellschaft schließt solche emanzipatorische Logik aus. Dagegen auf dem kreativen, also schöpferischen Impuls der Bildung zu beharren, ignoriert eine Welt, in der Kreativität dem Produktionsbereich überantwortet und dem ökonomischen Gesetz der Rationalität und Effektivität unterworfen ist (man beachtete hierbei die Konjunktur der Rede von Kreativität innerhalb der IT-Branche und New Economy). Die Logik der Verwertung schlägt auf den Bildungsbegriff selbst zurück, verdinglicht Bildung zu Wissen und Information. Die gesellschaftliche Relevanz der Bildung kann sich nur als Qualifikationskategorie für den ökonomischen Betrieb behaupten. Keineswegs ist Bildung eine Art Invariante oder anthropologische Konstante; Bildung etablierte sich für die Legitimation der bürgerlichen Gesellschaft als Leitbegriff und Deutungsmuster im selben Augenblick, in dem die bildungsgemäße Entfaltung des freien Individuums bereits verstellt war: Als affirmative Kategorie wird Bildung für den Homo oeconomicus instrumentalisiert, als regressive Kategorie und eben speziell als »deutsches Deutungsmuster« (vgl. Bollenbeck 1996) für das nationale Interesse des Volkes. Und nur als abstrakte Kategorie scheint Bildung konsensfähig, als antiquierte Formel zur Verteidigung des Schöngeistigen und des kulturellen Erbes: doch die humanistische Idee verkehrt sich zur Ideologie.

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