Hiroshima.
6. August 1945 – 8 Uhr 15

Es gehört zu perfiden Dialektik des Fortschritts, dass man sich über die zerstörerische Sprengkraft der Atombombe in den Vereinigten Staaten sehr wohl im Klaren war, gleichwohl aber keine Erkenntnisse über die verheerenden Auswirkungen der radioaktiven Strahlungen hatte. Die Atombombe ist die Waffe, die die Logik des Krieges in jenem Zeitalter bezeichnet, in dem ökonomische Effizienz und Leistung alle Formen des bürgerlichen Humanismus ersetzt haben. Wenn der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, dann markiert der Atomkrieg eine Politik, in der der Mensch nur noch als Faktor der Kalkulation auftaucht. Der Schrecken der Bombe, ihre Gefahr, wird in Zahlen bemessen: in Toten. Zynisch scheint mit der Menge der Vernichteten die Glaubwürdigkeit der atomaren Bedrohung verbunden zu sein. In diesem Punkt konvergiert die Atombombe mit den nazideutschen Vernichtungslagern. Beides kulminiert in der Geschichtsverdrängung, indem man die Überlebenden ignoriert und die historischen Katastrophen zu Ereignissen, zum Datum isoliert: 6. August 1945 – 8 Uhr 15. Auch wenn John Herseys Bericht über den Atombombenabwurf auf die japanische Stadt Hiroshima als Untertitel dieses Datum trägt, zielt sein Unterfangen auf etwas gänzlich anderes: Ihm geht es darum, den Opfern eine Stimme zu geben, die Überlebenden darüber sprechen zu lassen, was Überleben überhaupt heißt. Auch wenn seit September 1945 die amerikanischen Besatzungsbehörden ein offizielles Verbot der Berichterstattung über die Bombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki erlassen hatten, reist der amerikanische Kriegsreporter Hersey nach Hiroshima, um über die Folgen und Ausmaße des Bombenabwurfs zu recherchieren. Seinem Bericht, der noch 1946 in einer Sondernummer des ›New Yorker‹ erschien, liegen sechs Interviews mit Überlebenden zugrunde. Ihrer Erfahrung hat Hersey eine Stimme gegeben. Hersey (1914 bis 1993) hinterlässt mit ›Hiroshima‹ ein bestürzendes Dokument, das Aufschluss über die gewaltvolle Struktur des 20. Jahrhunderts gibt. Das Zitat, mit dem Hersey sein Bericht beendet, liest sich derart als Nekrolog auf eine ganze Epoche: »Am Tag vor der Bombe ging ich schwimmen. Am Morgen aß ich Erdnüsse. Ich sah ein Licht. Ich wurde auf den Schlagplatz meiner kleinen Schwester geworfen. Als wir gerettet waren, konnte ich nicht weiter sehen als bis zur Straßenbahn. Meine Mutter und ich begannen unsere Sachen einzupacken. Die Nachbarn gingen verbrannt und blutend umher. Hatayasan sagte mir, ich solle mit ihr davonlaufen. Wir gingen in den Park. Am nächsten Tag ging ich zur Taiko-Brücke und traf meine Freundinnen Kikuki und Murakami. Sie suchten ihre Mütter. Aber Kikukis Mutter war verwundet, und Murakamis Mutter war leider tot.« Das dem nachgestellte Wort »Ende« steht dort, als gilt es für die Geschichte überhaupt.

[Der Text erschien 2006 in der ›testcard‹.]

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John Hersey, ›Hiroshima. 6. August 1945 – 8 Uhr 15‹, mit einem Vorwort von Robert Jungk, EVA: Hamburg 2005, 187 S. brosch.