Optimierung versus Spontaneität

Optimierung versus Spontaneität
Ulrich Sonnemanns ›Negative Anthropologie‹ in pädagogischer Perspektive

Absichten und Verfahren der Optimierung gehören zu den arbeitswissenschaftlichen Bestrebungen, Produktionsabläufe der kapitalistischen Fabrik effizienter und effektiver zu gestalten; Frederick Winslow Taylor hat solche Optimierung auf die Formel eines »one best way« gebracht. Überdies ökonomisch erfolgreich waren zeitlich, in den 1920er Jahren, die Produktions- und Betriebsorganisation in den Ford Automobilwerken (Einführung des Fließbandes und daran orientierte Taktung der Arbeit, zugleich Lohnerhöhung, unternehmensgebundene Freizeitangebote für Arbeiter etc.). Schnell hatten sich Taylorismus und Fordismus als Schlagworte solcher betriebswirtschaftlichen Optimierungen etabliert, die ohnehin mit allgemeineren gesellschaftlichen Prozessen verbunden waren, die ebenfalls als Optimierungen zu fassen sind: Stichhaltig sind hierfür die soziologischen Analysen Max Webers zu Bürokratisierung und Rationalisierung sozialer Verhältnisse; überdies etablieren sich Strategien gesellschaftlicher Optimierungen in den USA mit dem Behaviorismus. Solche Optimierungen nicht nur allein zur Stabilisierung der bestehenden Sozialstrukturen, sondern vor allem auch zu ihrer Verbesserung im Sinne einer Humanisierung ausprobiert zu haben, ist das Verdienst John Deweys; gerade seine pädagogischen Experimente in dieser Hinsicht sind bekannt und bieten nach wie vor Handlungsorientierung für die noch immer nötige Demokratisierung der Schulen insbesondere und der Bildungsinstitutionen allgemein.
Was Optimierung allerdings unterstellt und voraussetzt, sind Konzepte, die – wie der Begriff Optimierung selbst auch – zur »technologischen Rationalität« (Herbert Marcuse) gehören, nämlich »Funktion«, »Norm«, »Standard«, später auch »Steuerung« (im Sinne der Kybernetik).
Kritisch ergibt sich daraus für eine Pädagogik, die solche Ideen der Optimierung in ihre pädagogische Praxis implementieren will, die einfache Frage: »Ist der Mensch messbar?« Dass der Mensch indes messbar ist, gehört allerdings affirmativ bereits zur Forschungsvoraussetzung und wird zugleich mit den entwickelten Messverfahren bestätigt – man denke etwa an die Intelligenztests sowie Clara und William Sterns Einführung des Intelligenzquotienten noch vor dem Ersten Weltkrieg.
»Ist der Mensch messbar?« war die Leitfrage des Darmstädter Gesprächs 1958; die Tagungsbeiträge wurden 1959 veröffentlicht. Als Diskussionsteilnehmer und Referent bei der Tagung war u.a. Ulrich Sonnemann; er veröffentlicht zehn Jahre später seine ›Negative Anthropologie‹.
Sonnemann, der selbst an der Entwicklung und Prüfung psychologischer Tests beteiligt war, entwickelt hier, also bereits in den 1950er und 1960er Jahren gegen die Ideologie der Optimierung eine kritische Theorie der Spontaneität. Sie ist – nicht nur angesichts eines gegenwärtigen eher unbedarft wirkenden Optimierungsdiskurses – pädagogisch wie über die Pädagogik hinaus in historischer und systematischer Rekonstruktion eben der Sonnemannschen ›negativen Anthropologie« zu aktualisieren. Aus Anlass der Veröffentlichung der ›Negativen Anthropologie‹ versucht der Vortrag überhaupt die Stellung Ulrich Sonnemanns für die (kritische) Pädagogik zu beleuchten.

(109)