Die verwaltete Welt als Tatort


»Es ist wirklich so, dass alles, was wir tun, Spuren hinterlässt, die von unserer persönlichen Art erzählen könnten.« – Theodor Reik, ›Der unbekannte Mörder. Psychoanalytische Studien‹, Frankfurt am Main 1983 (1925), S. 22.

Wer noch einigermaßen beide Hirnhälften beisammen hat und sich – sei’s aus Gewohnheit, aus Freude am Überdruss, Gruppenzwang oder Zufall, weil nichts Besseres zu tun in den Sinn kam – am Sonntagabend die seit Ende November 1970 im Programm der ARD laufende TV-Krimi-Serie ›Tatort‹ mit womöglich auch nur loser Regelmäßigkeit ansieht, denkt unweigerlich: Das ist nun aber wirklich der allerschlechteste, dümmste, reaktionärste Scheiß, der je gesendet wurde. Und eventuell schon am nächsten Sonntagabend wird man es nicht glauben wollen, dass es noch schlechter geht. »Wer nichts wird, wird Wirt. Wer auch das nicht wird, wird Schauspieler im deutschen Fernsehen. Und wer auch dazu zu blöd ist, schreibt Drehbücher für ›Tatort‹.« Aber die Zuschauer, so wird kolportiert, lieben es. Und so nimmt es nicht Wunder, dass der Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag GmbH – das ist der Verlag, bei dem jeden Monat mindestens ein Buch erscheint, in dem eine Frau ihr geheimes Sexleben beichtet (meistens Prostitutions- oder SM-Bekenntnisse) – in seiner Reihe »111 Gründe …« – die Auflistung bisheriger Titel liest sich wie surreale Poesie: ›111 Gründe, seinen Garten zu lieben‹, ›111 Gründe, Berlin zu lieben‹, ›111 Gründe, Heavy Metal zu lieben‹, ›111 Gründe, offen zu lieben‹, ›111 Gründe, Katzen zu lieben‹ etc. – nun auch ›111 Gründe, »Tatort« zu lieben‹ offeriert.
Als Autorenteam haben sich Silke Porath (»Jahrgang 1971 … »zuletzt ›Keine Panik vor der Panik‹ und der Frauenroman ›Schokolade ist auch nur Gemüse‹«) und Kurt-J. Heering (»geboren 1953 … Seine letzten Veröffentlichungen sind ›Apokalypse 2012. Die Weltuntergangsprophezeiungen der Maya« [zusammen mit Jo Müller] und ›50 Jahre Fußball-Bundesliga‹«) zusammengefunden. Das Buch funktioniert selbst wie ein ›Tatort‹: durchweg im informierten Sensations-Jargon des Boulevard-Journalismus geschrieben, versammeln Porath und Heering zahlreiche kurz-, mittel- und langweilige Anekdoten aus vierzig Jahren Tatort – wobei es tatsächlich a) vor allem um die letzten fünfzehn Jahre geht und b) überproportional um Folgen mit dem Kommissar-Paar Batic und Leitmayr. Natürlich kommt der erste ›Tatort‹-Kommissar Paul Trimmel vor (ab 1970, zehn Folgen), selbstverständlich gehört zu den 111 Gründen immer wieder Horst Schimanski (ab 1981, 29 Folgen) und erwartungsgemäß ist das Münster-Gespann Thiel und Boerne »außer Konkurrenz«. Der historische Teil wird durch wiederholte Erwähnungen von Folgen wie ›Tote Taube in der Beethovenstraße‹ von 1973 oder ›Reifezeugnis‹ von 1977 abgedeckt. Auch wenn es letzthin eine »nach Meinung der Autoren« sehr – wie man so sagt – subjektive Sicht auf die ›Tatort‹-Serie ist, bildet das Buch dennoch objektive Ideologie ab, eben das, was in der kritischen Theorie notwendig falsches Bewusstsein heißt: Geschrieben wird, wovon Porath und Heering wohl glauben, dass das die Leute lesen wollen. Bestätigt wird das Buch durch den Erfolg der Serie, und der besteht in der Gemeinschaft der Millionen, die allsonntäglich für die Quoten sorgen – und zwar, das ist entscheidend und gehört zum Rezept dieses Erfolgs, letzthin gleichgültig im Urteil über das, was geboten wird.
Auch darin wird ›Tatort‹ wie kaum ein anderes Produkt des bundesdeutschen Medienverbunds zum anschaulichen Sittengemälde, das präzise zeigt, wie Individualität und verwaltete Welt hierzulande ineinander greifen. Kanonisiert wird ›Tatort‹ dabei wie jedes Produkt, das nach dem deutschen Verständnis zum »Kulturgut« erhoben wird, nämlich nicht als dynamischer, gegebenenfalls sogar fortschreitender Ausdruck des Zeitgeistes (wenige Ausnahmen zumeist alter ›Tatort‹-Folgen bezeugen das), sondern einzig in der mortifizierten Form als Tradition. Das begründet wahrscheinlich den Enthusiasmus der abertausend ›Tatort‹-Fans: dass sie ein Ritual pflegen, das ihnen mit Sicherheit garantiert, immer wieder das gewohnte Alte vorgesetzt zu bekommen. Auch das mag erklären, warum Til Schweiger, obwohl es reichlich Unmut gegen ihn und seine Veränderungswünsche am ›Tatort‹-Format gab, dann doch als neuer Hamburg-Kommissar Nick Tschiller goutiert wird: alles bleibt, wie’s ist, nur noch unsäglicher, einfältiger, bescheuerter.
Übrigens wird ja gerade in der jüngeren Geschichte der ›Tatort‹-Serie immer deutlicher, was den Krimi, insbesondere den Fernsehkrimi vom Kriminalfilm, erst recht vom Thriller und allemal von der Detektiv-Geschichte unterscheidet. In den zwanziger Jahren schrieb Siegfried Kracauer: »Nicht um die naturgetreue Wiedergabe jener Zivilisation genannten Realität selber ist es ihnen [i. e. den Detektiv-Romanen, R. B.] zu tun, vielmehr von vornherein um die Hervorkehrung des intellektualistischen Charakters dieser Realität; #ä#Sie halten dem Zivilisatorischen einen Zerrspiegel vor, aus dem ihm eine Karikatur seines Unwesens entgegenstarrt. Das Bild, das sie darbieten, ist erschreckend genug: es zeigt einen Zustand der Gesellschaft, in dem der bindungslose Intellekt seinen Endsieg erfochten hat, ein nur mehr äußeres Bei- und Durcheinander der Figuren und Sachen, das fahl und verwirrend anmutet, weil es die künstlich ausgeschaltete Wirklichkeit zur Fratze entstellt. Der Internationalität dieser vom Detektiv-Roman gemeinten Gesellschaft entspricht genau sein internationaler Geltungsbereich, ihrer Gleichförmigkeit in den verschiedenen Ländern die Unabhängigkeit seiner Struktur und Hauptgehalte von nationalen Eigentümlichkeiten. Immerhin verleihen solche ihm eine jeweils wechselnde Tönung, und es ist gewiss kein Zufall, dass die hochzivilisierten Angelsachsen gerade seinen Typus gefunden und scharf herausgeformt haben.« Selbst im Film, sogar im deutschen, lebt dieser unheimliche und derart spannende Eigensinn der Detektiv-Geschichte noch fort; kein Wunder, dass die deutschen Edgar Wallace-Produktionen der 1960er in England spielen, FBI-Agent Jerry Cotton im Trivialroman und Kino in New York agiert (die amerikanische Großstadt repräsentiert gerade im Bereich der kriminellen Kultur Internationalität). Kombinatorische Logik ist wichtig, konterkariert die instrumentelle Vernunft in der verwalteten Welt. Das gilt dann für den französischen Thriller und selbst für den TV-Detektiv ›Columbo‹. Mit der deutschen Fernsehkrimiserie ›Tatort‹ ist es etwas anders. ›Tatort‹ ist national, die in ihm vorgeführte Gesellschaft keine Fratze, sondern Heimat. An Schimanski und Tanner, die als Grund 1, ›Tatort‹ zu lieben, herhalten – später heißt es: »Das Erfolgsduo im ›Tatort‹ schlechthin. Die Duisburg-Folgen revolutionierten die Serie und setzen Maßstäbe in Sachen Spannung, Action, Realismus …« (S. 240) –, ist bezeichnend, dass sie eben keine Detektive sind und auch nicht wirklich, wie Kracauer schreibt, »mit und gegen, über und zwischen Polizei und Verbrecher« agieren, sondern die sozialpsychische Komplexion von Delinquenz und Loyalität, Eigenmächtigkeit und Beamtenspießigkeit, Normativität und Illegalität als Idealtypen des konformistisch-nonkonformistischen, also des omnipotent-ohnmächtigen Durchschnittsdeutschen verkörpern, eben Modelle von Rollen sind, die nicht gespielt werden, sondern real erscheinen (George ist Schimanski): es sind Pseudoindividuen, die sich in den diversen ›Tatort‹-Kommissarinnen und Kommissaren seither wieder finden, und mit ihrem als Aufmüpfigkeit getarnten Ressentiment eben den deutschen Normalzustand möglich gemacht haben, der mit der Ära Kohl begann; anders gesagt: die geistig-moralische Wende findet im ›Tatort‹ ihre physische und faktische Entsprechung. Und wiederholt wie verfestigt wird das mit jeder neuen Folge der »Kult-Serie«.

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Kurt-J. Heering & Silke Porath, ›111 Gründe, »Tatort« zu lieben. Eine Liebeserklärung an eine ganz besondere Krimireihe‹, Schwarzkopf und Schwarzkopf Verlag: Berlin 2012, 352 S. brosch.