Zur Bildung von Spielzeug-Welten

Zur Bildung von Spielzeug-Welten

(Kolonialisierung der Kindheit)

1. Bildung wird seit Humboldt begriffen als Selbst- und Weltaneignung; der Idealismus systematisierte das in seiner Hochphase, nämlich der Philosophie Hegels, als Phänomenologie des Geistes: Selbst- und Weltaneignung gehen als Bildungsprozess zusammen, das Selbstbewusstsein ist Weltwissen. Bei Hegel ist dieser Prozess schon ganz auf Arbeit eingestellt; Schiller hatte das ein paar Jahre zuvor noch anders akzentuiert, in berühmter Wendung: »Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.« Auch wenn das eher pädagogisch als bildungstheoretisch gemeint ist, kommen hier Kinder (noch) nicht vor; Bildungstheorie will zunächst von Kindern nichts wissen.

2. Das ändert sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts, schließlich im zwanzigsten (das vermeintliche ›Jahrhundert des Kindes‹, Ellen Key [cf. Andresen 2000]). Wir sind nicht in die Welt geworfen, sondern in die Welt geboren, sagte Hannah Arendt gegen ihren zum Faschismus konvertierten Freund Heidegger. Das tätige Leben sollte sich jetzt in einer veränderten Kindheit ausprobieren können, Erfahrung im Spiel sollte die Bildung als Selbst- und Weltaneignung begründen.

3. In ohnehin neuen Raumordnungen (Fabrik, verwaltete Welt, Großstadt, Komfortwohnung, Warenhaus etc.) bewegen sich auch Kinder in einer neuen Raumordnung. Im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts werden (u.a.) Kinderzimmer und Spielplätze zu »Bildungsräumen«.

4. Eine sich nach dem Zweiten Weltkrieg schnell entwickelnde Spielzeugindustrie »hilft«, solche kindlichen Bildungsräume auszustaffieren mit gleichsam »Werkzeugen«, die phantastische Übergänge (Abenteuer, Zeitreisen etc.) von der relativ kleinen, engen, durch allerhand Zwänge begrenzten Lebenswelt in scheinbar unbegrenzte Welten ermöglichen.

5. So entsteht in der Kindheit womöglich »Welt«. Ist das so? Und wenn ja: Was ist das für eine Welt, was sind das für Welten? (Konkret: Wie verändern sich durch Barbie-Puppen, Modelleisenbahn oder so genannte Systemspielzeuge wie Lego und Playmobil kindliche Weltwahrnehmungen – in Hinblick auf Bildungsprozesse?)

6. Es dauert, bis in der Spielzeugindustrie spezifische Themenwelten entwickelt werden – z.B. Lego: »Ritter«, 1978. – Auch wichtig sind Rückkopplungen mit anderen »weltbildenden« Produktionen, insbesondere mit Filmen: vgl. z.B. ›Star Wars‹ – als Wiederkehr des Blockbusterkinos auch mit »kindgerechtem« Merchandise (Spielfiguren, Puzzle, Federtaschen etc.).

7. Jack Odell baute für seine Tochter eine Straßenwalze, die so klein war, dass sie in eine Streichholzschachtel passte. Spielzeuge werden von Erwachsenen für Kinder gemacht (abgesehen von Kinderarbeit in den Spielwarenfabriken). (Walter Benjamin nannte das übrigens bereits 1928 die »Emanzipation des Spielzeugs«.) Welche Weltvorstellungen werden damit – bewusst, unbewusst, pädagogisch gewollt etc. – vermittelt?

8. Als Frage: Bilden Spielzeug-Welten? Das meint auch: Findet im Umgang mit Spielzeugen (d.h. als kindgerechte Spielzeuge vermarktete Kinderwelten) unter Umständen »mehr Bildung« statt als z.B. im (konventionellen) Schulunterricht? (Hier wäre der Exkurs fällig zu Kitas ohne Spielzeug …)

9. Der Untertitel ist von Klaus Holzkamp: Er nennt die Entwicklungstheorien von Piaget etc. Kolonialisierung der Kindheit. (Andere – Postman, Schmid König – sprechen vom Verschwinden der Kindheit: mit Bezug auf u.a. Spielzeuge …)

10. (Auch fiktive, »spielerische«) Weltbilder dienen der Bewältigung von Schwierigkeiten sowie Orientierung in der »realen« Welt (der kleinen Lebens- oder Alltagswelt wie auch der »großen weiten Welt«, globale Umwelt, Kosmos etc.). Welche Übergänge oder Brüche gibt es hier in Bildungsprozessen von den Spielzeug-Welten zu den Welten, mit denen Erwachsene (also pauschal verkürzt: »die Menschheit«) heute konfrontiert sind? Wie und mit welchen Verzerrungen realisiert sich in den Spielzeug-Welten Bildung als Selbst- und Weltaneignung.

11. Etc.

Literatur (Stichproben).

Andresen, Sabine, ›»Das Jahrhundert des Kindes« als Vergewisserung. Ellen Keys Echo im pädagogischen Diskurs der Moderne‹, in: ZSE: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 20 (2000) 1, S. 22–38.

Karl W. Bauer und Heinz Hengst, ›Wirklichkeit aus zweiter Hand. Kindheit und Erfahrungswelt von Spielwaren und Medienprodukten‹, Reinbek bei Hamburg 1980.

Elschenbroich, Donata, ›Weltwissen der Siebenjährigen. Wie Kinder die Welt entdecken können, München 2001.

Kübler, Hans-Dieter, ›»Weltwissen« und/oder »Medienwissen« von Kindern. »Wissensforschung« – ein Desiderat pädagogisch orientierter Medienforschung?, in: MedienPädagogik, 08/2017, Band 4, Ausgabe Jahrbuch Medienpädagogik.

Schmid König, Nelia, ›Vom Verschwinden der Kindheit. Jugend im Wandel der Zeit‹, Frankfurt am Main 2019.

(Hinweis – »Quellenangabe«: Als Abstract eingereicht für »Geteilte\verteilte Welt(en). Jahrestagung 2022 der Kommission Bildungs- und Erziehungsphilosophie«, DGfE, September 2022, Halle; nicht angenommen.)

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