Die Gesellschaft des Spektakels
Zunächst: Rezension der Neuauflage der »Gesellschaft des Spektakels« vom Situationisten Guy Debord
Dann: Skizze einer Polemik gegen eine vorschnelle Wende zum Utopischen, die im Windschatten der Situationisten ins Fahrwasser des Utopistischen zu geraten droht
Debord, These 204
Es ist ausgerechnet das Schicksal der zentralsten Werke einer emanzipatorischen Theorie der Gesellschaft, daß ihr Inhalt in der kritischen Diskussionen eher als Surrogat von Formeln, Schlagwörtern, gar Phrasen zirkuliert, denn in einem voll reflektierten Bewußtsein ihres Gehalts. Deshalb dürfte es keine bloße Wiederholung sein, wenn an dieser Stelle auf eine aktuelle Ausgabe von Guy Debords Die Gesellschaft des Spektakels hingewiesen wird. Das im letzten Jahr in der Edition Tiamat erschienene Buch beinhaltet die 221 Thesen, die als »La Société du Spectacle« 1967 zuerst veröffentlicht wurden, die Vorrede zur dritten französischen Ausgabe von 1992, Kommentare zur Gesellschaft des Spektakels sowie das Vorwort zur vierten italienischen Ausgabe von »Die Gesellschaft des Spektakels« von 1979.
Debord wurde mit seinen 221 Thesen – wie es heißt – über Nacht zur Berühmtheit; er habe schon ein Jahr vorher das Buch zum Pariser Mai 68 geschrieben. Und doch: auf ihm und seinem Werk lastet das Urteil des Unikums; eine nennenswerte Rezeption, die seine Analysen des Kapitalismus in den Kontext anderer kritischer Theorien zu stellen hätte, blieb weitgehend aus. Was Debord als die »Situationistische Internationale« (SI) mitbegründete, sollte fast nur in Künstlerkreisen Berücksichtigung finden, innerhalb derer die Situationisten selbst wohl am aktivsten waren (wenn auch mit der Intention der Sprengung verhärteter Fronten zwischen Wissenschaft, Kunst und Alltagsleben). Erst in jüngster Zeit reifen die Bemühungen einiger Autoren zu Früchten heran. Zu nennen wäre beispielsweise Martin Jays Downcast Eyes. The Denigration of Vision in Twentieth-Century French Thought (Berkeley, Los Angeles und London 1994) oder die Situationist International Anthology, herausgegeben von Ken Knaab (Berkeley 1989); schließlich hat sich aus der Perspektive der Subkultur- und Popanalyse schon 1990 Greil Marcus mit Lipstick Traces. A Secret History of the Twentieth Century (Cambridge/Mass.) um einige Anknüpfungsaspekte der Situationisten verdient gemacht. Als jüngste Publikation wäre fernerhin die Textsammlung zu nennen, die von Pierre Gallissaires, Hanna Mittelstädt und Roberto Ohrt unter dem Titel Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten publiziert wurde (Hamburg 1995). Was aber noch aussteht, ist eine systematische Einordnung der Debordschen Thesen in eine kritische Theorie der Warentauschgesellschaft. Die Situationisten wählten seinerzeit die Kunst als möglichen Ort kritischer Praxis jenseits der akademisch-universitären Philosophie. Doch in den Schriften, so auch in der Gesellschaft des Spektakels, sind die Bezugspunkte zur damaligen wie auch historischen kritischen Sozialphilosophie offenkundig. Neben Sartre war es vor allem Henri Lefebvre und seine Kritik des Alltagslebens, von denen Impulse ausgingen, die die Situationisten als Aufforderung begriffen, mit der 11. Feuerbachthese Marxens Ernst zu machen. Als historischer Bezugspunkt rangiert etwa – gleich für das erste Kapitel der »Gesellschaft des Spektakels« das Motto hergebend – Ludwig Feuerbach, ein in den 60er Jahren absolut randständig behandelter Philosoph. Ein antiakademisches Buch also, daß über den Akademismus weit hinausreicht.
Die Entscheidung für das Aktionsfeld der Kunst entspricht einer Not, die in ihrer Konsequenz vielleicht auch den Praxisansatz der Situationisten zum Scheitern gebracht hat; sicherlich gehört dazu das persönliche Scheitern (Debord setzte Ende 1994 seinem Leben ein Ende; die Geschichte der SI ist eine Geschichte von Ausschlüssen und Anfeindungen). Hinzu kommt: zwar sind es Künstler, oder von der Kunst Inspirierte, die einiges zur Wiederbelebung der kritischen Theorie der Situationisten beitragen, doch daß diese Reaktualisierung eben vorrangig im Bezirk der Kunst abgeklopft wird, zeugt von einer von vornherein reduziert-determinierten Reichweite der situationistischen Kritik. Dabei hatte Debord sich schon gegen alle ästhetizistische Vereinnahmung, die heute etwa unter dem Siegel der Avantgarde in der Verschiebung linker Politik zur Poptheorie nachzuzeichnen ist, entschieden behauptet; immerhin diagnostizierte Debord das Ende der Kunst nach Dadaismus und Surrealismus: »Der Dadaismus wollte die Kunst wegschaffen, ohne sie zu verwirklichen; und der Surrealismus wollte die Kunst verwirklichen ohne sie wegzuschaffen. Die seitdem von den Situationisten erarbeitete kritische Position hat gezeigt, daß die Wegschaffung und die Verwirklichung der Kunst die unzertrennlichen Aspekte ein und derselben Aufhebung der Kunst sind« (These 191, S. 164f.).
Die Theorie der Gesellschaft des Spektakels ist eine kritische Theorie der Warentauschgesellschaft, eine radikale Kritik des Kapitalismus, die mit denselben Prämissen operiert wie die kritische Theorie Adornos, Horkheimers, Marcuses und Benjamins. Zu erinnern ist, daß Horkheimer die Direktorenschaft des Frankfurter Instituts für Sozialforschung übernahm, um zu verfolgen, inwieweit der kulturelle Überbau gegenüber der ökonomischen Basis aufgrund der warenlogischen Vernetzung der Verhältnisse eine relative Eigenständigkeit gewinnt, inwieweit also das Zur-Ware-Werden der Kultur jene Folie darstellt, auf der sich die Tauschlogik im Bewußtsein der Menschen manifestiert. Jenseits der ökonomischen Zirkulationssphäre bestehen und verlängern sich die Mechanismen des Fetischismus, so die Annahme der kritischen Theorie der Frankfurter, durch die Kultur. Das Zur-Ware-Werden von Kultur meint nicht nur ihre Einbindung in den Markt, ihre Vereinnahmung für kapitale Zwecke, sondern ebenso, daß sich innerhalb der kulturellen Produkte selbst, vornehmlich der Kunst, Strukturen einlagern, die den Fetischcharakter repräsentieren und perpetuieren. Das umschreibt bei Debord der Begriff des »Spektakels« – der ja, durch seine skopisch-visuelle Konnotation, auch unmittelbar sich einfügt in gegenwärtige Tendenzströmungen postmoderner Diskurse um Medialität und »Immaterialität« (Lyotard); nur eben dann nicht postmodern-immateriell und medial verwässert als bloße Komponente des Ästhetischen, sondern begriffen als Ausdruck jenes fundamentalen warenökonomischen Zusammenhangs, der als Kapitalismus von Postmodernen kaum thematisiert wird.
Wenn Debord von der Ware spricht, dann verpflichtet er sich in einer Dichte, die sonst nur von den Schriften Walter Benjamins bekannt ist, alle Bereiche des Menschlichen und nunmehr Unmenschlichen auf die immanente Logik der Ware zu durchleuchten. Er spricht also nicht bloß von den einzelnen Dingen, sei ihr Zweck ein kultureller oder nicht, sondern ebenso von der spezifischen Warenlogik, die sich im Bewußtsein, der Rationalität, den Emotionen, der Wahrnehmung, dem Körper der Menschen durchsetzt. So dürfte es nicht von ungefähr kommen, wenn Debord – ähnlich wie Adorno und Horkheimer im Kulturindustrie-Kapitel der Dialektik der Aufklärung – vom »Star« spricht (vgl. These 60, S. 48 und These 193, S. 166). Als Ergänzungen zu Benjamins Passagen-Werk oder Zentralpark lassen sich dann auch entsprechende Notate zum Zusammenhang von Mode, Zeit und Revolution lesen (etwa These 162, S. 141; s. auch insgesamt Kapitel V: »Zeit und Geschichte«, S. 111ff.) – gleich Benjamin deutet Debord den Kapitalismus in seiner phantasmagorischen Gestalt als »Schlaf«. Bei Benjamin war es der Traum zum Erwachen hin, der süße Traumschlaf des 19. Jahrhunderts, aus dem die Menschen im 20. Jahrhundert mit dem Weckruf des Terrors gerissen wurden; dagegen diagnostiziert Debord einen Alptraum, der den geschehenen Terror vergessen machen soll: »Das Spektakel ist der schlechte Traum der gefesselten, modernen Gesellschaft, der schließlich nur ihren Wunsch zu schlafen ausdrückt. Das Spektakel ist der Wächter dieses Schlafes« (These 21, S. 21).
Obgleich Debord in etwas spitzer Weise 1992 in der Vorrede schreibt: »Ich bin nicht jemand, der sich korrigiert. Eine solche kritische Theorie bedarf keiner Änderungen« (S. 7), so wäre dies doch als Aufforderung zu lesen, sich jenseits des Konsenses der Phrase, auf den sich einige zu leichtfertig in Sachen Situationisten verständigt haben, einmal für eine ausgiebige Diskussion stark zu machen. Solche Diskussion würde die Theorie zur Praxis drängen; es kann aber nicht sein, daß man schon Praxis hat, wenn nur die Situationisten zitiert werden; man muß durch die Theorie hindurch. Also die berüchtigten Siebenmeilenstiefel des Begriffs sind auch beim letzten Gang durch die Eiswüste der Abstraktion zu tragen.
Mit dem Erscheinen der Ausgabe 18 der »Krisis« scheint sich eine marginale, doch tendenziell Folgen ankündigende Kursänderung der hier schreibenden Autoren abzuzeichnen: dem Duktus des Apokalyptischen folgen nun Eröffnungsperspektiven auf eine mögliche Praxis hin. Da werden einmal Aufwertungen möglicher »freigesetzter Zeit« anvisiert, etwas im Stile Oskar Negts, wenn es heißt, Modellversuche zur Arbeitszeitverkürzung »hätten nur eine Perspektive, wenn sie mit dem Übergang zu autonomen Reproduktionsformen jenseits von Markt und Staat verbunden wäre[n], d.h. wenn die zusätzliche ›disponible Zeit‹ nicht als leere ›Freizeit‹, sondern als Zeit für selbstbestimmte Tätigkeiten außerhalb der Ware-Geld-Beziehung genutzt werden könnte« (Kurz, Krisis 18, S. 35). Es bräuchte noch einmal eine gesonderte Diskussion, ob hier nicht etwas naiv-idealistisch die Autonomie des Individuums – einerseits als Jenseits-von-Markt-und-Staat andererseits als autonomes Subjekt – eskamotiert ist; jedenfalls steht solche plötzliche Einsicht in souveräne, doch noch nicht total von der Ware erfaßte Bezirke des Sozialen im Zentrum der Beiträge. Lohoff weiß dann: »Die restlose Metamorphose aller Menschen in Verwertungs- und Rechtsmonaden kann nicht gelingen. Auch unter kapitalistischen Bedingungen bleiben Lebensbereiche übrig, die sich der warengesellschaftlichen Zurichtung sperren … Zu denken ist in diesem Zusammenhang vor allem an die Geschlechterproblematik und den abgespaltenen, weiblich besetzten Bereich« (Krisis 18, S. 57 Anm.). Auch denkt Lohoff an das Umweltbewußtsein: »Mittlerweile … ist das Massenbewußtsein so weit, wie vor einem Vierteljahrhundert nur die fortgeschrittensten Geister waren« (Krisis 18, S. 105). – Wie gesagt, dies zu diskutieren bräuchte seinen eigenen Ort; gleichwohl die Perspektivierung möglicher Utopie jenseits von Geld und Markt, für die die Krisisautoren lange genug gebraucht haben, höchste Zustimmung verdient, können diese ersten Gehversuche auf dem offenbar ganz unbekannten Gebiet utopischer Kälte- und Wärmeströme (Bloch) ihr unbeholfenes Stolpern nicht verbergen: in der unbedachten Verwendung von Topoi wie »Subjekt«, »Individuum«, »Autonomie« und dergleichen, wird die begriffliche Dialektik, die aus jedem Individuum zugleich das Dividuum, den Widerspruch macht, unterschlagen. So erweckt man den Verdacht, sich in in der Subjektphilosophie wie in einem terminologischen Bauchladen zu bedienen, statt ehrlich sich zur theoretischen Leerstelle zu bekennen. Also: hier lediglich einige nicht näher kommentierte Stichprobenpolemik, die angebracht scheint, weil das ganze Herbeizaubern menschlicher und sozialer Autonomie und Subjektivität gedeckt wird durch: Debord und die Situationisten! Trenkle etwa resümiert seinen Beitrag zur »Weltgesellschaft ohne Geld« mit Zitation von Debords These 178 aus der Gesellschaft des Spektakels, die »Aufhebung der Warenform wäre dann … eine › Kritik der menschlichen Geographie, durch die die Individuen und die Gemeinschaften die Landschaften und die Ereignisse konstruieren müssen, die der Aneignung nicht nur ihrer Arbeit, sondern ihrer gesamten Geschichte entsprechen. In diesem bewegten Raum des Spiels und der freigewählten Variationen der Spielregeln kann die Autonomie des Ortes wiedergefunden werden, ohne eine neue ausschließende Bindung an den Boden einzuführen‹« (Krisis 18, S. 92). Allerdings unterschlägt er die praxeologisch-klassenkämpferische Ausrichtung Debords, die an diesem Zitat doch zentral zu sein scheint, weshalb es hier in ganzer Länge aus der neuen Übersetzung wiedergegeben sein soll: »Die Geschichte, die diese dämmernde Welt bedroht, ist auch die Kraft, die der erlebten Zeit den Raum zu unterwerfen vermag. Die proletarische Revolution ist diese Kritik der menschlichen Geographie, wodurch die Individuen und die Gemeinschaften die Landschaften und die Ereignisse konstruieren müssen, die der Aneignung nicht mehr nur ihrer Arbeit, sondern auch ihrer gesamten Geschichte entsprechen. In diesem beweglichen Raum des Spiels und der freigewählten Varianten der Spielregeln kann die Autonomie des Ortes, ohne die Wiedereinführung einer neuen ausschließlichen Bindung an den Boden, wiedergefunden werden und dadurch die Wirklichkeit der Reise zurückbringen, sowie die des Lebens, verstanden als Reise, deren Sinn ganz in sich selber ist« (S. 153). Die Fokussierung des Positiv-Utopischen scheint mit den Situationisten wesentlich gedeckt zu werden, wenn auch nicht ganz transparent wird, weshalb. So ist Kurz’ marginaler Bezug auf die Situationisten als Anwälte einer »Kultur der Verweigerung«, bei der es einzig bliebe, weil »eben kein transformatorisches Ziel, kein Programm einer anderen Produktions- und Lebensweise mehr entwickelt werden kann« (Krisis 18, S. 49), eher eine rhetorisch-spektakuläre Unterbietung des Spektakels; es ginge vielmehr um eine Verweigerung der Kultur, nämlich im transformatorisch-transzendenten Horizont, den es erst noch zu entdecken gilt. Und zwar als historisch schon vorscheinender und latenter. Dazu muß nicht »das erste Gefecht eines ganz anderen Mai« gegen die historische Erfahrung der Verweigerung vergangener Frühlingserwachen des Humanen ausgespielt werden, als ob soziale Emanzipationsziele eine Angelegenheit gleich Konfektionen seien, die auf dem Laufsteg der Theorie präsentiert werden und in ihrer Neuartigkeit den Tod der vergangenen Mode ankündigen sollen. Gerade was den Zielhorizont angeht, so ist es wesentlich um die Aneignung der Vergangenheit zu tun. Debord über den Ort möglicher Befreiung, These 221: »Nur dort, wo die Individuen ›unmittelbar mit der Weltgeschichte verknüpft sind‹; nur dort, wo sich der Dialog bewaffnet hat, um seinen eigenen Bedingungen zum Sieg zu verhelfen« (S. 187; vgl. auch These 1–220, S. 13ff.). Nur dort.
Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels und andere Texte, aus dem Französischen von Jean-Jacques Raspaud und Wolfgang Kukulies, Edition Tiamat: Verlag Klaus Bittermann: Berlin 1996, 304 S. brosch. 38 ,– DM
Guy Debord, Panegyrikus, aus d. Franz. v. Wolfram Bayer, Edition Tiamat: Verlag Klaus Bittermann: Berlin 1997, 96 S., brosch. 32,– DM
*) Der Text erschien 1997 in der Zeitschrift ›karoshi‹.
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