»Die Welt nicht mehr verstehen« – Jean Améry
»Die Welt nicht mehr verstehen.« – Das könnte der drastische Programmtitel nicht nur für das Leben und Werk Jean Amérys sein, sondern gleichsam für die Epoche, die Amérys Leben und Werk beherrschte: Jean Améry wird 1912 als Hans Mayer in Wien geboren; er ist das Kind assimilierter, konvertierter Juden. Améry wird Schriftsteller und Dozent. 1938 marschieren die Nazis durch Wien; eine begeisterte Bevölkerung feiert den »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich. Améry emigriert nach Belgien, wird dort zwei Jahre später, 1940, festgenommen und im südfranzösischen Lager Gurs interniert. 1941 gelingt die Flucht; Améry gelangt wieder nach Belgien, wo er sich im antifaschistischen Widerstand engagiert. Am 23. Juli 1943 wird Améry beim Verteilen von Flugblättern verhaftet und von der Gestapo gefoltert. Er wird in Konzentrationslager deportiert: Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen. Er überlebt den Terror, doch ein Leben nach dem Terror ist nicht mehr möglich. 1978 begeht er in einem Hotel in Salzburg Suizid. Ein Ausweg aus der Ausweglosigkeit, den er in einem Text vorgezeichnet hat: ›Hand an sich legen‹. Doch die Unmöglichkeit, weiterzumachen, ist jedem seiner Texte eingeschrieben; und so ist kaum eine Bemerkung so lapidar, wie sie bisweilen zunächst klingen mag, etwa, wenn Améry in seinem Essay ›Über das Altern‹ im Kapitel »Die Welt nicht mehr verstehen« schreibt:
»Wer an die Schwelle gerät, dieser an Jahren früher, jener ein wenig später, mancher gewappnet mit Aufrichtigkeit, ein anderer befangen in einer Selbsttäuschung, die aber allemal sich als wenig solide erweist, muss irgendwann erfahren, dass er die Welt nicht mehr versteht. Dieser Aspekt des sozialen Alterns: das im weitesten Sinne kulturelle Altwerden, erhellt sich zumeist in einem ziemlich langsamen, undramatischen Prozess sukzessiver Einsichten. Zuerst ist da oft nur ein taubes Gefühl von Widerwillen gegen das, was der Alternde für sich den ›kulturellen Jargon‹ der Epoche nennt …« (ÜDA, S. 111)
Und:
»Er versteht die Welt nicht mehr; die Welt, die er versteht, ist nicht mehr. Die Nötigung, dass er das Unverständliche verstehe, entlässt ihn so wenig wie die Haft des Vergangenen. Er ist kein Held, nur ein Irgendwer: so heldenhaft wie jeder Irgendwer, der altert und sterben wird.« (ÜDA, S. 140)
Am Ende bleibt der Tod.
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Nach 1945 lebt Améry in Brüssel, schreibt für deutschsprachige Zeitschriften in der Schweiz. Der Schriftsteller verweigert gelegentlich die Publikation seiner Texte in der Bundesrepublik. 1964 lernt er Helmut Heißenbüttel im Goetheinstitut in Brüssel kennen; Heißenbüttel verabredet mit Améry eine Radiosendung für den Süddeutschen Rundfunk über ›Die Begegnung des Intellektuellen mit Auschwitz‹. Von Améry selbst gesprochen wird der Essay am 19. Oktober 1964 gesendet; im selben Jahr begann in Frankfurt der Auschwitz-Prozess. Zwei Jahre später, 1966, erscheint der Text als Buch: ›Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten‹.
Es ist nicht nur ein Buch über den erlebten Terror, über das, was Auschwitz bedeutet hat, über das System der Vernichtung, sondern es ist vor allem ein Buch über das, was Auschwitz noch immer bedeutet: für die Überlebenden ebenso wie für die Ermordeten, aber eben auch für diejenigen, die bereitwillig den Mord begangen und es eigentlich darauf anlegten, keine Überlebenden übrig zu lassen. Améry spricht über das, worüber keiner sprechen wollte: über Schuld, über Sühne. Die öffentliche Meinung hieß – und heißt immer noch oder besser, seit der neueren Fernseh-Historysierung Nazideutschlands, schon wieder: »Was Hitler mit den Juden gemacht hat, war schlimm.« Die Opfer haben keinen Namen, die Täter auch nicht; die Personifizierung des Grauens ist eine Psychologisierung der Unperson: Hitler, die Bestie, der Verführer, der Wahnsinne. Der Massenmord wurde ungeschehen gemacht, in dem er zum Geschehen wurde, abgedrängt in die geschichtlich unbestimmte Vergangenheit. »Das ist nun mal passiert. Punkt.« Oder: »Es muss nun auch endlich einmal Schluss sein.« Und damit beginnt Améry seinen Essay:
»Seien Sie vorsichtig, riet mir ein wohlmeinender Freud, als er von meinem Plan hörte, über den Intellektuellen in Auschwitz zu sprechen. Nachdrücklich empfahl er mir, von Auschwitz möglichst wenig und von den geistigen Fragen möglichst viel zu handeln. Auch meinte er, dass es angezeigt sei, wenn irgend angängig, zu verzichten, das Wort Auschwitz schon im Titel anzuführen: Das Publikum sei allergisch gegen diesen geographischen, geschichtlichen, politischen Begriff.« (1977, S. 18)
Die bestürzende Wahrheit dieses Rates sollte sich erst noch vollends zeigen in den nachfolgenden Jahren. Améry macht sie zum Thema des Vorworts zur Neuausgabe 1977:
»Als ich an die Niederschrift ging, sie beendete, gab es in Deutschland keinen Antisemitismus, richtiger: wo es ihn gab, dort wagte er sich nicht hervor. Man schwieg die Sache mit den Juden tot oder rettete sich gar in einen aufdringlichen Philosemitismus … Das Blatt hat sich gewendet. Keck erhebt ein alt-neuer Antisemitismus wieder sein widriges Haupt, ohne dass er Empörung hervorriefe … Das sowohl politische wie jüdische Nazi-Opfer, das ich war und bin, kann nicht schweigen, wenn unter dem Banner des Anti-Zionismus der alte miserable Antisemitismus sich wieder hervorwagt … Der Antisemitismus hat eine sehr tief verankerte kollektivpsychologische, in letzter Analyse wahrscheinlich auf verdrängte religiöse Sentiments und Ressentiments rückführbare Infrastruktur. Er ist aktualisierbar zu jeder Stunde – und ich erschrak zwar zutiefst, war aber nicht eigentlich erstaunt, als ich erfuhr, es sei bei einer Kundgebung zugunsten der Palästinenser in einer deutschen Großstadt nicht nur der ›Zionismus‹ (was immer man unter diesem politischen Begriff verstehe) als Weltpest verdammt worden, sondern es hätten die erregten jungen Antifaschisten sich deklariert durch den kraftvollen Ruf: ›Tod dem jüdischen Volke‹.« (1977, S. 10 ff.)
Améry war der erste fast und über Jahre der einzige, der den Antisemitismus nach Fünfundvierzig politisch skandalisierte; er dürfte der einzige gewesen sein, bis zu seinem Freitod 1978, der überhaupt den Antisemitismus in der Linken zum Thema machte – und aufs schärfste verurteilte. Es gehört zu den traurigsten Gewissheiten der Geschichte, dass der Antisemitismus in der Linken seither nicht abgenommen, sondern ganz im Gegenteil zugenommen hat, verteidigt und zur festen Größe wurde, und über jede Dummheit hinaus auch noch zur Basis impertinenter Seilschaften mit reaktionärster Menschenverachtung dienlich gemacht wurde: Im Hass auf die Juden sind sich bis heute eben die Linken, Pseudokritiker und vermeintliche Sozialrevolutionäre einig, die ansonsten für jeden Streit und jede Spaltung, jede Differenz und jede Zusammenarbeitsverweigerung zu haben sind.
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Améry ist kein Marxist; er ist Aufklärer, und als solcher klärt er durchaus auch marxistisch auf. Aufklärung ist seine Philosophia perennis, seine immerwährende Philosophie. Man kann sie jetzt in ihrem ganzen Umfang nachlesen: Seit 2002 erscheinen Amérys vielfältigen und zahlreichen Schriften in einer Werkausgabe, herausgegeben von Irene Heidelberger-Leonard, jeder einzelne Band fachkundig editiert und kommentiert von einer weiteren Herausgeberperson: Die beiden Schriften ›Über das Altern‹ und ›Hand an sich legen‹ sind von Monique Boussart als Band 3 der Werke herausgegeben. Nun sollen hier noch zwei Bände vorgestellt werden: Band 5 – ›Aufsätze zur Literatur und zum Film‹, sowie: Band 6 – ›Aufsätze zur Philosophie‹.
Zunächst ein Überblick über die ›Aufsätze zur Literatur und zum Film‹. Amérys Domäne war, im besten Sinne des Wortes und ganz ohne Beigeschmack des bornierten Bildungsdünkels, die Kulturkritik. Neben einigen Schriften über Musik im Allgemeinen und Jazz im Speziellen zählen zu den kulturkritischen Arbeiten auch umfangreiche Texten zur Literatur und zum Film, die der von Hans Höller herausgegebene Band 5 der Werke versammelt. Der Bogen ist weit gespannt: Thomas Mann, Marcel Proust, Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard, Elias Canetti, Alfred Andersch und Max Frisch etc. – die Liste ist lang und lässt sich um viele weitere Namen fortsetzen.
»Dass man ihn lesen sollte, weiß ein jeder«, (Werke Bd. 5, S. 86) heißt es über Proust. Améry hat es getan und überrascht den Leser mit sinnreichen Erkenntnissen, die er aus seiner eigenen Lektüreerfahrung gewinnt; besonders schön entfaltet Améry Prousts Idee des Traums in der ›Suche nach der verlorenen Zeit‹:
»Wenn hier von Traum gesprochen wird, dann meint dies nicht, es habe der Romancier in diesem Riesenwerk auch nur einen Augenblick lang gerade jene Tagesrealität, die unser aller intersubjektiv mittelbare Gewissheit ist, aus den Augen verloren. Es findet keine bewusste Transformation der Realität in Sprache statt. Der Traum ist kein Sprachtraum. Er ist auch nicht der Traum träumerischer Gestalten … der Traum ist nicht Prousts Traum, sondern die Widerspiegelung der sich selbst in all ihrem Jammer träumenden Realität.« (Werke Bd. 5, S. 103)
Das steht im Kontext der Suche nach einem Realismus, also der Frage, wie unter den gegenwärtigen Bedingungen Realismus überhaupt noch möglich sein kann. Herausgeber Höller erläutert: »Auch das Bewusstsein einer Suche nach dem Realismus im Nach-Auschwitz gehört zu den spezifischen Akzenten von Amérys Realismus-Begriff. Sein ›Wiederlesen‹ des scheinbar biederen Hausbuchs der Deutschen – Gustav Freytags ›Soll und Haben‹ – ist ein Lehrstück der satirischen Dekonstruktion eines literarischen Antisemitismus …« (Werke Bd. 5, S. 615)
Doch Amérys – wenn man das so sagen will – Realismus-Kritik am Realismus trifft nicht nur die Reaktion, sondern bisweilen auch die progressive Literatur, wo sie die Wirklichkeit durchbricht. Nicht immer hat Améry dafür Verständnis und er urteilt dann grob: Batailles ›Obszönes Werk‹ sei etwa »ein recht überflüssiges Verlagsunternehmen. Das Buch ist weder schockierend noch erhellend.« (Werke Bd. 5, S. 223)
Amérys Kritiken sind auch ein Versuch, das Leben zu retten; er bekennt sich zur Emotion, zum subjektiven Standpunkt, ist im enthusiastischen Urteil schneller und schärfer als im wissenschaftlich. Dabei geht es immer um die Sache. Das ist insbesondere bei den kleineren Texten zum Film herauszulesen, die den Band beschließen: Hier geht ein Filmfreund ins Kino, begeistert von den Möglichkeiten dieses immer noch recht neuen Mediums.
So oder so also: Améry schreibt immer mit Leidenschaft – nie mit Selbstmitleid, gerne mit Bewunderung und manchmal mit Verzweiflung. Seinen Text ›Begegnungen mit Elias Canetti‹ schließt Améry drastisch-nüchtern, und doch emphatisch: »Ich hasse den Tod nicht und habe wenig Lust, noch lange zu leben. Aber ich bin neugierig. Gerne würde ich wissen wollen, wie in vierzig Jahren der Zeitgeist über einen von mir so verehrten Autor urteilen wird.« (Werke Bd. 5, S. 145) Geschrieben sind diese Worte 1973.
Leidenschaft bestimmt auch Amérys Sprache der Kritik – mit Marx lässt sich hier sagen: »… Kritik [ist] keine Leidenschaft des Kopfes, sie ist der Kopf der Leidenschaft.« (MEW Bd. 1, S. 380) Das setzt sich in den ›Aufsätzen zur Philosophie‹ fort, die Gerhard Scheit herausgegeben hat, wie die anderen Bände auch mit sorgfältig editiertem Anhang und Kommentar versehen.
Das philosophische Spektrum, das Améry interessiert hat, scheint fast noch großer als das literarische. Und wie bei der Literatur richtet sich Amérys Interesse auf die Krise des bürgerlichen Zeitalters, auf das Scheitern der Moderne, kurzum: auf die Katastrophe, die in die Gegenwart ragt. So beschäftigt sich Améry mit Philosophie am Ende der Philosophie. Er geht, was die Philosophie im engeren Sinne betrifft, bis Hegel zurück, weiter nicht. Und dass er zu Hegels zweihundertsten Geburtstag seine Überlegungen unter die Überschrift: ›Befreier oder Oppressor?‹ stellt, kommt gewiss nicht von ungefähr. Schopenhauer und Nietzsche: auch mit ihnen erschließt sich weniger die Vergangenheit des neunzehnten Jahrhunderts, als das, was vom neunzehnten Jahrhundert noch übrig ist: So heißt es 1975 in: ›Nietzsche – der Zeitgenosse‹: »Zum Zeitgenossen wird uns Nietzsche auch dort, wo er die intellektuelle Diktatur sowohl der Naturwissenschaften wie der Historie verspottet, zugleich aber abrechnet mit der spekulativ-konstruktiven Metaphysik des deutschen Idealismus.« (Werke Bd. 6, S. 405) Schließlich resümiert Améry über Nietzsche und seine Schrift ›Schopenhauer als Erzieher‹, eine der vier ›Unzeitgemäßen Betrachtungen‹, erschienen 1874: »Er war der Feind des Staates und der Gesellschaft nicht nur, sondern auch der Widersacher des aus der Antike zu uns gekommenen, in der Aufklärung auf die Höhe der Moderne gehobenen Menschenbildes. Vom ›Tode des Menschen‹ spricht, fast ein Jahrhundert nach ihm, der Strukturalismus. Am Sterbebett des Menschen sieht sich ein jeder, der auch nur eine Zeitung liest. Der Essay ›Schopenhauer als Erzieher‹ führt uns auf kürzestem Wege nicht nur in Nietzsches Gedankenwelt, sondern auch in unsere Gegenwart.« (Werke Bd. 6, S. 409)
Hier ist übrigens, als Stichwort, benannt, was Améry mit äußerster Aufmerksamkeit verfolgte: Die Entwicklung des Strukturalismus – Lèvi-Strauss etc. – zum später dann so genannten Poststrukturalismus, namentlich Michel Foucault. Hier grenzt Améry sich scharf ab; aber auch mit dem sachlichen Feind, mit der kritischen Theorie Adornos vor allem, ist Améry nicht wirklich einverstanden.
Er bleibt als Aufklärer und deshalb als Humanist dem Existenzialismus nahe, den Sartre so berühmt gemacht hat: Es geht um die Freiheit, zu der der Mensch verdammt ist; das ist gegebenenfalls auch die Freiheit zu sterben.
Als Aufklärer übrigens führen ihn seine Überlegungen sehr wohl zurück ins achtzehnte Jahrhundert, also in das Zeitalter der Aufklärung – etwa zu Voltaire und Lessing. Aber, wie gesagt, Aufklärung ist Amérys immerwährende Philosophie, zeitlos wirklich, gerade weil im Widerspruch zur Realgeschichte unmenschlicher Grausamkeit. 1978 – also dem Jahr, in dem er den Freitod wählt – schreibt Améry: »Die Rückbesinnung auf Lessing … scheint mir das allerdringlichste Gebot zu sein. In seinem Geiste sollte jener Mensch wieder auferstehen, dessen Tod Michel Foucault feierlich verkündete.« (Werke Bd. 6, S. 588 f.)
Jean Améry, ›Über das Altern. Hand an sich legen‹, Werke Band 3, hg. von Irene Heidelberger-Leonard und Monique Boussart, Klett-Cotta: Stuttgart 2005, 538 Seiten kt. geb.
Jean Améry, ›Aufsätze zur Literatur und zum Film‹, Werke Band 5, hg. von Irene Heidelberger-Leonard und Hans Höller, Klett-Cotta: Stuttgart 2003, 640 Seiten kt. geb.
Jean Améry, ›Aufsätze zur Philosophie‹, Werke Band 6, hg. von Irene Heidelberger-Leonard und Gerhard Scheit, Klett-Cotta: Stuttgart 2004, 650 Seiten kt. geb.
Jean Améry, ›Die Schiffbrüchigen‹, Stuttgart 2007
Jean Améry, ›Jenseits von Schuld und Sühne‹, Stuttgart 1977.
[FSK Radiobücherkiste, 18. Januar 2008, 10.00 bis 12.00 Uhr, Sprechzeit: 21:10 Minuten]
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