Die Jazzmaschine spielt Samba
Der Philosoph Eduardo Silva über die doppelte Kulturindustrie Brasiliens und die Unterschiede zur deutschen Popgesellschaft
Eduardo Soares Neves Silva, geboren 1969 in São Paulo, Brasilien, verbrachte mit vier Jahren einige Zeit im Gefängnis und wurde mit den Eltern ins Exil nach Frankreich gezwungen. Er studierte Philosophie in Campinas, Belo Horizonte und zuletzt in Weimar und forscht über Adornos Ästhetik als Theorie der Massenkultur. Unser Autor Roger Behrens traf den Philosophen in Belo Horizonte und sprach mit ihm über Massenkultur und Diktatur, kritische Theorie in Brasilien und die Bossa-Nova-Mode in Deutschland.
ND: Brasiliens Massenkultur scheint der These einer globalen Kulturindustrie, wie sie Scott Lash formuliert, zu widersprechen: Wir finden hier eine widersprüchliche, aber zugleich vom Westen unabhängige Kultur. Außerdem treten in Brasilien soziale Widersprüche offener zutage, auch innerhalb des kulturellen Feldes. In gewisser Weise zeigt sich hier, was in Europa an Elend und Armut noch versteckt ist.
Form und Inhalt sind zu unterscheiden: Formal ist Brasilien zum Beispiel von der Kulturindustrie der USA abhängig, aber inhaltlich zeigt sich eine eigenständige, wenn auch heterogene Kultur. Zunächst hat Brasilien, durch seine besondere Kolonialgeschichte, keine klassische bürgerliche Hochkultur, sondern eine traditionelle plurale Kultur – die sich aus europäischen, indianischen und afrikanischen Einflüssen zusammensetzt. Diese im Alltagsleben verankerte Kultur hat mittlerweile auch eine Industrie, weshalb von einer doppelten Kulturindustrie in Brasilien gesprochen werden kann: Eine industrielle westliche Mainstream-Kultur und der Versuch, das Traditionelle Brasiliens ökonomisch zu kulturindustriell geschehen ist, in Brasilien mit Chorinho oder Samba, der Musik aus den Armenvierteln, passierte. Deshalb, so meine ich, ergibt sich von Brasiliens Massenkultur aus ein anderer Blick auf die Kulturindustriethese der Kritischen Theorie.
ND: Der Anspruch auf eine multikulturelle Gesellschaft scheint in Europa weitgehend Ideologie zu sein. Mein Eindruck ist, dass Vielfalt und der Wunsch nach Neuem aber in der brasilianischen Kultur fest verankert sind.
Stefan Zweig hat Brasilien einmal zu Recht als »Land der Zukunft« beschrieben; in dieser Weise stimmt vielleicht, weshalb bei uns auf der Fahne »ordem e progresso«, Ordnung und Fortschritt – übrigens ein Satz von Auguste Comte – steht. Das ist aber zugleich auch problematisch, weil Brasilien nie ein Land der Gegenwart war. Eine paradoxe Situation: Vieles, was die traditionelle Moderne in Europa kennzeichnet, zum Beispiel Rassismus oder ein militaristischer Nationalismus, gehören wenigstens nicht zur brasilianischen Moderne – aber zur faschistischen Militärdiktatur, die versuchte, Brasilien mit Gewalt in die Gegenwart zu katapultieren. Gleichzeitig ist Brasilien auch ein Land der Vergangenheit mit traditionellen sozialen Beziehungen, was etwa die Bedeutung der Familie betrifft. Unsere Geschichte ist von sehr vielen Widersprüchen gekennzeichnet: Zum Beispiel haben dieselben Jesuiten, die die Sklaverei und den Massenmord an den Indianern duldeten, schon vor vierhundert Jahren Pluralität und Individualität der Menschen verteidigt. In gewisser Hinsicht war unsere Moderne schon immer postmodern. Man kann dies auch an unserer Architektur sehen, die modern ist, aber nach europäischen Maßstäben als postmodern gelten muss.
ND: Das stützt das Bild, das in Europa von Brasilien verbreitet ist: ein fröhliches und zufriedenes Land, geprägt vom Karneval in Rio, tanzenden Menschen, Strand und Samba.
Das ist freilich Unsinn; die global wachsende ökonomische Stellung Brasiliens geht zulasten einer größer werdenden, sich verschärfenden Armut. Karneval ist einmal im Jahr, ansonsten ist die brasilianische Kultur eher von einer Ruhe und Gelassenheit geprägt. Samba ist eine ebenso zurückhaltende und traurige Musik wie zum Beispiel Bossa Nova. Auch dies eine paradoxe Situation: Je mehr sich die sozialen Widerspüche verschärfen, desto größer scheint die Resignation zu sein, die Verhältnisse nicht ändern zu können. In diesem Sinne ist die brasilianische Redewendung »Há sempre um jeito« – »Es gibt immer einen Trick« – gemeint: Dieser »Trick« ist kein Angriff auf die Zustände, sondern eher eine Strategie, dem sozialen Druck standzuhalten, notfalls mit Gewalt.
ND: Eine melancholische Massenkultur, statt der aus Europa bekannten Spaßkultur?
Ja, vielleicht. Bossa Nova ist auch schon als typischer Ausdruck des brasilianischen Modernismus beschrieben worden. Allerdings steckt in dieser Melancholie auch eine politische Frustration. Die Politik der Militärregierung der Siebziger führte zu einer Entpolitisierung – im Bossa Nova wird fast nur über Liebe gesungen, daneben gibt es eine schreckliche, offizielle Mainstreammusik: Das ist unsere Spaßkultur, durchaus.
ND: Ist Samba politischer?
Die Sambamusik hat viel mit der politischen und ökonomischen Entwicklung Brasiliens zu tun. Politisch ist Samba, weil sich in dieser Musik ein Alltag artikuliert, der von Unterdrückung und sozialer Not bestimmt ist. Samba hängt wie der Jazz mit Sklaverei und Industrialisierung zusammen, nur dass in Brasilien das Ende der Sklaverei und die Industrialisierung in einen sehr engen, verdichteten Zeitraum gegen Ende des 19. Jahrhunderts zusammenfallen. So entstand in den dreißiger und vierziger Jahren eine Boheme, die es in Europa bereits ein Jahrhundert früher gab; und: Diese Boheme war nicht wirklich bürgerlich, sondern in gewisser Weise eine industrielle Reservearmee, kulturelles Lumpenproletariat. Das führte zur typischen Melancholie des Sambas.
ND: Ist das die Musik, die wir in Europa als Samba oder Bossa Nova kennen?
Nein, denn es gibt mittlerweile die kulturindustrielle Variante von Samba, die einfach mit einem Elektrobeat versehen und so für den Weltmarkt kompatibel gemacht wird; ebenso gibt es Bossa Nova als Easy Listening. Das ist die brasilianische Mode, die in Europa derzeit Erfolge hat. Die Sambamusik der vierziger Jahre, die so genannte MPB (música popular brasileira) der Siebziger und der Tropicalismo werden erst jetzt wieder entdeckt.
ND: Auch von europäischen DJs?
Während der Militärregierung waren die fortschrittlichen Künstler und Intellektuellen im Gefängnis oder im Exil, wenn nicht im Ausland, so auf Grund der Zensur zumindest in einer Art »innerer Emigration«. Den Austausch zwischen brasilianischer und westlicher Massenkultur hat es damals schon gegeben. Auch unsere DJs erlernen gerne ihr Handwerkszeug in London, um dann europäische Musik mit brasilianischer hier auf die Tanzfläche zu bringen.
ND: In Zeiten der Krise zeigt sich, dass die Massenkultur eine Illusion ist, weil sie gar nicht den Massen zur Verfügung steht. So kommt es zu einer sozialen Differenzierung innerhalb der Massenkultur, teure Clubs für Reiche, Radio- und Fernsehunterhaltung für Arme. Wie sieht das in Brasilien aus?
Es gibt auch hier eine Zwei-Klassen-Kultur. Glücklicherweise, kann man sagen, versuchen aber die Reichen einen westlichen Stil zu kopieren, der überhaupt nicht künstlerisch oder kulturell attraktiv ist. Die Partys hier sind mit den deutschen Großraumdiskotheken vergleichbar. Gleichzeitig wird die gute Musik noch in den Favelas gespielt, aber ohne sich der widerständigen Tradition dieser Musik bewusst zu sein; nun versucht eine neue kulturelle Avantgarde diese Tradition zu retten, auch gegen den Zugriff der brasilianischen Kulturindustrie, die den Marktwert dieser Musik längst erkannt hat. »Und ewig stampft die Jazzmaschine«, schreiben Adorno und Horkheimer über die Kulturindustrie; diese von der kritischen Theorie so gescholtene Jazzmaschine stampft nicht nur, sondern spielt auch eine leise Musik des unscheinbaren Widerstands: Samba.
ND: Kultureller Widerstand hat in Europa zumeist mit Subkulturen oder dem so genannten Popdiskurs zu tun. Wie ist das für Brasilien zu verstehen?
Neben den eben erwähnten Versuchen einer am Samba orientierten Gegenkultur gibt es durchaus Subkulturen im Sinne von Fan-Gruppen. Die aus Belo Horizonte stammende Metalband Sepultura ist weltbekannt und erfolgreich. Es gibt auch hier Punk oder elektronische Musik. Das sind aber eher Nischen innerhalb der Kulturindustrie. Wirkliche Jugendbewegungen, von den 68-ern einmal abgesehen, existieren in Brasilien nicht. Einen Popdiskurs, wie ich ihn in Deutschland etwa im Zusammenhang mit Gruppen wie Blumfeld oder Goldene Zitronen erlebt habe, gibt es hier nicht; es gibt allerdings einen sehr konformistischen, kulturindustriellen Musikjournalismus – wie in Deutschland.
ND: Verteidiger der Massenkultur heben ihre demokratische Funktion hervor…
Massenkultur wie auch das politische System der Demokratie gehören zu einem Kapitalismus, der auf Unterdrückung menschlicher Vermögen basiert; insofern kann ich dieser These schon theoretisch nicht zustimmen. Als Ausländer in Deutschland war ich zudem mit den praktischen Erfolgen dieser demokratischen Kultur konfrontiert, hatte des Öfteren mit Diskriminierungen und Rassismus, auch mit neonazistischen Jugendlichen zu tun. Ich würde mit Blick auf Brasilien sagen, die Massenkultur bietet gerade unter repressiven Bedingungen die Chance, mit künstlerischen Mitteln Demokratie einzufordern und diese in einer solidarischen Alltagskultur auch zu praktizieren. Das habe ich in Deutschland nur in wenigen subkulturellen Zirkeln erleben können.
ND: Daneben, oder besser als eine Art zweiter Überbau, existiert also doch eine alles nivellierende globale Kulturindustrie?
Im ökonomischen Sinne: ja. Die Plattenfirmen, die Musikindustrie, die Medienkonzerne sind in Brasilien dieselben wie in Europa; der VW Käfer, ein großes Symbol der Massenkultur für Deutschland – so viel ich weiß, von den Nazis eingeführt – eroberte den brasilianischen Markt während der Militärdiktatur… Wenn von den ökonomischen Bedingungen der globalen Kulturindustrie gesprochen wird, muss auch von den kulturellen Produktionsverhältnissen die Rede sein: Wie leben also die Angestellten der Kulturindustrie, und wer ist überhaupt angestellt? Zur deutschen Popgesellschaft scheint zu gehören, dass viele, die in Plattenfirmen oder der Medienindustrie arbeiten, wirklich glauben, eine subversive Kultur bestimmen zu können. Das geht bis zu der Allianz zwischen der sozialdemokratischen Regierung und deutschen Musikern wie Heinz-Rudolf Kunze oder Pur. Das halte ich für eine ganz gefährliche politische Illusion des Pop, die es in Brasilien seit der Militärregierung in einigen Varianten reaktionärer und stumpfer Rockmusik gibt. Heute sind dies unterschiedliche Richtungen wie Pagode, Axé oder Rock Brasil, die jeweils glauben, von der Kulturindustrie unabhängig zu sein und sich gegenseitig Ausverkauf vorwerfen. Tatsächlich sind dies alles Produkte der Kulturindustrie.
ND: Können wir also an der heterogenen Massenkultur in Brasilien sehen, dass alle Subkulturen letztlich Teile der Kulturindustrie sind?
Ja, und ich gehe mit Adorno sogar soweit zu sagen, dass selbst ich als vermeintlich subkultureller Kritiker der Kulturindustrie bereits in ihrer Logik operiere.
(ND 20.04.02)
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