
Notizen zum digitalen Zeitalter 1
Hat Rousseau seinen ›Emile‹ auf dem Laptop geschrieben? – Nein, natürlich nicht. – Aber was wäre, wenn er es getan hätte?
Rousseau hat eine Pädagogik geschrieben, keine Bildungstheorie. Ganz im Sinne einer Dialektik der Aufklärung sind Rousseaus Empfehlungen von 1762 ambivalent, einmal progressiv-liberal, einmal regressiv-autoritär. ›Émile ou de l’éducation‹ ist eines der Grundbücher bürgerlicher Emanzipationsbestrebungen, signifikant für das historische Kraftfeld der Theorie und Praxis, das das Frankreich und überhaupt das Europa des achtzehnten Jahrhunderts durchströmt.

Was ist das Digitale?
Was bedeutet »digital«? Zurück zum Barock: Das Adjektiv »digital« wird in den 1650er Jahren erstmals im physiologisch-anatomischen Sinne mit der Bedeutung »in Bezug auf Finger oder Zehen« verwendet und ist dem Lateinischen ›digitus‹ = Finger, Zehe entlehnt (verwandt mit Lat. ›dicere‹ = »zeigen«). Gebildet wurde das Adjektiv aus dem Substantiv ›digit‹, das bereits nachweislich im späten 14. Jahrhundert …

Bild,
Schrift,
Cyberspace
Wolfgang Bock, ›Bild – Schrift – Cyberspace‹. Diese fulminante Einführung soll nun endlich bald besprochen werden … (105)

Das Unbehagen in der Bewusstseinsindustrie
Eine Gruppe von Bachelor-Studierenden echauffiert sich auf einem eigens eingerichteten Blog im Internet über eine Vorlesung von Herfried Münkler, Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Humboldt-Universität Berlin; darüber wiederum echauffiert sich dieser, das Feuilleton bekommt Wind davon und echauffiert sich ebenfalls über die Studierendengruppe.

Ihr Leben kann zu
Schulungszwecken aufgezeichnet werden
Eine Karikatur: Auf einer belebten Straße, womöglich im Zentrum einer Großstadt; die Leute gehen umher, beinahe alle sehen gebannt in ihre Smartphones, bemerken nicht, was um sie herum geschieht. An einem Haus hängt ein großes Schild, auf dem mit Computerschrift steht: »Ihr Leben kann zu Schulungszwecken aufgezeichnet werden«.
Das wird eine Kritik des Behaviorismus dezidiert zu untersuchen haben: Inwieweit die Konditionierungen der Menschen in der verwalteten Welt mit der Konfiguration von Sicherheit, Beobachtung und schließlich Überwachung durch digitale Technik zusammenhängt – und zwar insbesondere im Kontext der Entwicklungen seit den 1970er Jahren, inwiefern nämlich individualisiertes Rollenverhalten mit den verschiedenen Möglichkeiten der Kontrolltechnologie durch Computerisierung und Kybernetisierung zusammenhängt: Ein entscheidender Faktor scheint zu sein, dass die Technologie in den Sozialisationsprozess implementiert wurde – oder besser: sich implementierte.
Es muss nämlich davon ausgegangen werden, dass dies der Strukturlogik einer Gesellschaft folgt, die ihre letzthin anarchische Ökonomie des Kapitals zur Krisenvermeidung oder zumindest, um den Anschein der sozialwirtschaftlichen Stabilität zu wahren, durch kybernetische oder überhaupt technische Verfahren zu glätten versucht. Denn der Kapitalismus schreibt sich keineswegs widerspruchsfrei in die Subjekte ein; eine Technik, die auf der formalen Logik eines binären Systems basiert, bietet sich an, die unmittelbar auf Sozialität bezogenen menschlichen Verhaltensweisen gleichsam wie ein Betriebssystem zu steuern, das Konflikte in »Programmfehler« zu kodieren vermag. Das ist dem Prinzip nach eine Automatisierung, die bereits im neunzehnten Jahrhundert mit der Industrialisierung beginnt und sich dann im zwanzigsten Jahrhundert in der mechanischen Optimierung der Arbeitsabläufe in der fordistischen Fabrik fortsetzt; seit dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert greifen hierbei Sozialtechniken zur Orientierung (Ausrichtung, also »Ostung«, P. Brückner) der Menschen als Bevölkerung: das ist das Zusammenspiel von Städteplanung, Hygienemaßnahmen, Entstehung von Freizeit und für die Freizeitgestaltung nötige ›moderne‹ Rituale wie Sitten und Gebräuche sowie am Freizeitverhalten ablesbare »Mentalitäten«, Massenpsychologie, Rassismus, Nationalismus, Tourismus und schließlich Behaviorismus (vgl. Klaus-Jürgen Bruder, ›Psychologie ohne Bewusstsein. Die Geburt der behavioristischen Sozialtechnologie‹, Frankfurt am Main 1982; siehe ebenso: Michel Foucaults Konzept der Biopolitik. Auch ist in diesem Zusammenhang auf die Untersuchung der Bedeutung von »Kalkulierbarkeit« etwa bei Georg Simmel oder Georg Lukács – im Zusammenhang mit Verdinglichung – hinzuweisen). Diese Orientierung der Bevölkerung konditioniert »die Masse« und, vor allem, konstituiert sukzessive das moderne Individuum, greift also tief in den Alltag der Menschen ein bzw. schafft überhaupt erst so etwas wie ein Alltagsleben (vgl. Henri Lefebvre, ›Kritik des Alltagslebens‹).

Positionen zur Technik, Technikentwicklung, Technikkritik …
Folgende Positionen lassen sich unterscheiden:
a) Technik an sich ist positiv, identisch mit dem Fortschritt der Menschheit. – Unglücksfälle, Katastrophen etc. sind auf menschliches Versagen zurückzuführen, das heißt durch den technischen Fortschritt selbst abzustellen, indem das Ziel ist, den fehlbaren Menschen durch die unfehlbare Technik zu ersetzen – aber im Sinne des Menschen … Beispiel: Atomkraft ist an sich unproblematisch und nur durch unsachgemäße Handhabung oder niedere Interessen (Atombombe, Krieg) problematisch.

Transzendentale Akustik / Digitale Musik
Die nächste Ausgabe der ›Testcard‹ widmet sich dem Themenkomplex Digitalität / das Digitale / digitales Zeitalter / digitales Leben etc. pp. unter dem Titel: ›Bug Report – digital ist besser‹; das Heft bzw. Buch erscheint voraussichtlich im November. Zeit genug, um sich auch im Rahmen der Sendereihe ›Transzendentale Akustik‹ dem Themenkomplex zu widmen.
Was ist also »digital«? – Zunächst ein Fachbegriff, der nicht mehr als ein bestimmtes physikalisches Vermittlungsverhältnis bezeichnet, nämlich eines, das nicht analog ist. »Typisch für digitale Systeme ist die unstetige, ziffernmäßige Arbeitsweise. Typisch für analoge Systeme, ist die Tatsache, dass verschiedene Systeme durch dieselben mathematischen Gesetzte beschrieben werden … Digital ist eine Sonderform diskreter Arbeitsweise, synonym mit numerisch bzw. ziffernmäßig.« (Karl Steinbuch, ›Die informierte Gesellschaft‹, Reinbek b. Hbg. 1968, S. 151 f.) Es geht um Kalkulation und Kybernetik; die digitale Arbeitsmaschine ist der Rechenapparat, also der Computer. Es gibt freilich auch analoge Rechengeräte; entscheidend für die digitale Technik sind die Bauteile und ihre Funktionsweise, nämlich mikroelektronische Schaltkreise, Prozessoren mit enormer Rechenleistung, die die Fähigkeiten menschlicher Hand- und Kopfarbeit bei weitem überbieten.

Wenn die Wirklichkeit dich überholt
Aus der Begeisterung für die wirklichkeitsgetreue Grafik der Computerspiele lässt sich erkennen, dass die Vorstellung von Wirklichkeit nicht unbedingt etwas mit der Realität zu tun hat. (Jungle World 20/2008)