Zur Aktualität der kritischen Theorie
Theodor W. Adornos
1. Zu seinem 100. Geburtstag wird Adorno wiederentdeckt. Es finden weltweit Adorno-Kongresse statt, Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen zu Adorno haben Hochkonjunktur. Die Stadt Frankfurt erinnert sich ihres einst »verlorenen Sohnes«. Dient dieses Interesse an Adorno Ihrer Meinung nach in erster Linie der Erinnerung an einen der großen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, oder enthält sein Werk ein begriffliches Instrumentarium und theoretische Potentiale, die auch unter den veränderten Diskurs-Bedingungen dieses Jahrhunderts fruchtbar gemacht werden können oder müssen? Und wenn ja, worin bestehen sie?
Adorno hat bereits in den sechziger Jahren, nämlich in seinem philosophischen Hauptwerk ›Negative Dialektik‹ darauf hingewiesen, dass eine jede Theorie heute als Mode auf einem akademischen Markt kursiert. Wenn Kulturindustrie wesentlich meint, dass alle Kultur zur Ware wird und mithin jedes Kulturprodukt in der Reklame für die Welt, wie sie ist, erstarrt, dann gehört das ja zur notwendigen Logik der spätkapitalistischen Kulturindustrie: Dass sie ihre schärfsten Kritiker durch Integration entschärft; dass sie die Kritik, und selbst die radikale Kritik, mit anderen Positionen, auch mit diametral entgegengesetzten und affirmativen Positionen nivelliert. Adornos einhundertster Geburtstag bot nun den willkommenen Anlass, seine kritische Theorie etwa ins kulturkonservative Fahrwasser zu bringen, oder überhaupt dadurch zu entmächtigen, indem Adorno auf den Kulturtheoretiker und Musikphilosophen reduziert wird. Wenn doch noch auf Adornos Gesellschaftskritik eingegangen wird, dann wird sie perfide – wie etwa in der ›F.A.Z‹ – zum Gewissen der Restauration gemacht.
Dahinter versteckt sich eine Biografisierung, die bereits von Leo Löwenthal (vgl. sein Beitrag: ›Zur biografischen Mode‹ in der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹) in den dreißiger Jahren bemerkt wurde. Nicht nur wird kritische Theorie damit depotenziert, sondern kritische Reflexion wird in gewisser Weise lächerlich gemacht, indem eben das Kritische auf die Marotten von vermeintlichen Persönlichkeiten reduziert wird.
Darüber hinaus erscheint Adornos kritische Theorie als obsolet, weil sich in den letzten dreißig Jahren insgesamt die theoretischen Diskurse, auch die Moden, verändert haben, die gewissermaßen die kritische Theorie überlagern. Wenn nach der Aktualität Adornos gefragt wird, geht es immer auch um eine Kritik derzeit vermeintlich aktueller anderer Theorien, insbesondere um die poststrukturalistischen Ansätze, wie sie von Foucault oder Deleuze und Guattari entworfen, schließlich von Hardt und Negri ausgeführt wurden. Auch wenn der Poststrukturalismus in verschiedenen Aspekte eine Erweiterung und Ergänzung der kritischen Theorie bedeuten mag, so ist auf die Grundintention der kritischen Theorie zu insistieren, die sich vom antidialektischen »fröhlichen Positivismus« (Foucault) radikal unterscheidet. »Man muss so radikal sein wie die Wirklichkeit«, sagt Brecht; und Adorno ist der Theoretiker, die meines Erachtens die Philosophie im 20. Jahrhundert entsprechend radikalisiert hat: Einmal besteht Adornos Aktualität in der Virulenz der Frage, wie und ob Philosophie nach Auschwitz noch möglich ist; dann gehört Adorno zu jenen, die versucht haben, die gesellschaftlichen Veränderungen, die dann mit dem Begriff der Kulturindustrie gefasst wurden, zu reflektieren. Kurz und überspitzt gesagt: Adornos Jazzkritik mag ihren Gegenstand verfehlen, sie bleibt aber aktuell in der Weise, wie hier überhaupt mit dem Instrumentarium einer radikalen Gesellschaftskritik versucht wurde, Phänomene wie den Jazz zu analysieren. – Wenn man, ausgehend von Kant (und Kant spielt ja für Adornos kritische Theorie neben Hegel, Marx und Freud eine prominente Rolle), die Frage »Was ist der Mensch?« aufgreift, dann findet sich bei Adorno als Antwort eine Aktualisierung der Frage in Richtung einer negativen Anthropologie: Wie lässt sich heute überhaupt noch vom realen Humanismus reden, angesichts der planmäßigen Vernichtung des Humanen, angesichts der Zurichtung des Individuums, angesichts der Verdinglichung des Subjekts? Wie ist, kurzum, heute Erfahrung noch möglich? – Das sind meines Erachtens die Ausgangsfragen, mit denen sich die Aktualität der kritischen Theorie Adornos behauptet.
2. In ihrem geschichtsphilosophischen Hauptwerk konstatieren Adorno und Horkheimer eine ›Dialektik der Aufklärung‹, wonach der Fortschritt der Vernunft in Mythos, die Emanzipation des Menschen von der Natur in totalitäre Herrschaft über die Natur umschlägt. Sehen Sie in der Beschreibung solcher Dialektik den zeitbedingten Versuch, die faschistische Barbarei in ihren Wurzeln, Ursachen und Gründen zu begreifen, oder ist sie auch heute noch ein Modell, das gegenwärtige Prozesse adäquat beschreiben kann?
Die ›Dialektik der Aufklärung‹ ist freilich zeitbedingt, hat aber in ihren Konsequenzen an Aktualität nichts verloren. Adorno sagte einmal, dass er das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie für gefährlicher halte als das Nachleben gegen die Demokratie; heute, gerade in Deutschland, findet sich ein politisches Klima, das von Antisemitismus und Rassismus keineswegs frei ist. Es geht eben nicht nur um die Aufarbeitung der Vergangenheit, sondern darum, dass offenbar das, was zu dieser Vergangenheit führte, noch gar nicht vergangen ist und sich permanent äußert: in neofaschistischen Übergriffen, im Antisemitismus offiziell gewählter Politiker, im Alltagsbewusstsein eines Gesellschaftscharakters, der offenbar stark konformistisch und autoritär geprägt ist. – Ich meine also, dass die in der ›Dialektik der Aufklärung‹ entfaltete Naturphilosophie gar nicht so abstrakt ist, sondern eingebettet ist in dem Befund, der sich für Adorno und Horkheimer dann in den kurze Zeit später angefertigten Studien zur autoritären Persönlichkeit bestätigte: Dass Naturbeherrschung in Beherrschung der menschlichen Natur umschlägt, in Selbstbeherrschung, die sich in einer ›Diktatur der Angepassten‹ manifestiert, wie ich es ausgehend von einem Song der Gruppe Blumfeld formuliert habe (Bielefeld 2003). Wenn in der ›Dialektik der Aufklärung‹ von Natur die Rede ist, dann ja auch immer im dialektischen Verständnis einer zweiten Natur; es geht also nicht um Ursprungs- und Geschichtsmythologie, wie es ja von Habermas und anderen nahegelegt wurde, sondern um einen sehr materialistischen Ansatz über die, grob gesagt, Produktion von Ideologie und ihre Dialektik. Die abstrakte Formel vom Umschlag der Aufklärung in ihr Gegenteil mündet im konkreten Befund der Strukturähnlichkeit von Kulturindustrie und Antisemitismus; von der Massenkultur als Psychoanalyse verkehrt herum. Das meint nun keineswegs die These, wie antidialektische Theorien verdächtigen, dass etwa Vorabendserien per se faschistisch seien; vielmehr geht es um die Frage nach den Bedingungen, die etwa antisemitische Auswürfe zum geduldeten Konsens einer auf Spaß und Unterhaltung verpflichteten Popkulturindustrie machen.
Problematisch indes ist in der ›Dialektik der Aufklärung‹ die zugrunde gelegte ökonomische Analyse eines stabilen Monopolkapitalismus; das verlangt Korrekturen, auch hinsichtlich der Analyse der Fetischverhältnisse der Warentauschgesellschaft, bei denen etwa Walter Benjamins Untersuchungen zum 19. Jahrhundert ebenso dienlich sind, wie Moishe Postones jüngst ins Deutsche übersetztes ›Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft‹ (Freiburg 2003).
3. Es scheint, als lasse sich der Philosoph Adorno nur als Denker der radikalen Negation begreifen. Diese geht so weit, dass in der von ihm diagnostizierten »Krise der Praxis« jede politische Praxis nur regressiv sein kann. Lassen sich demgegenüber in Adornos Werk auch Ansätze zu einer positiven Praxis finden?
Herbert Marcuse, mit dem Adorno sich ja gerade hinsichtlich der praktischen Reichweite einer kritischen Theorie in den sechziger Jahren etwas gestritten hat, reformulierte in ›Konterrevolution und Revolte‹ einen Begriff der radikalen, nämlich bestimmten Negation, der auf eine Praxis der Verweigerung hinausläuft. Das geschah allerdings in Reaktion auf politische Bewegungen, die tatsächlich einen Versuch der Befreiung unternahmen – und zumindest in der Intention, eine emanzipierte Gesellschaft einzurichten, überhaupt nicht gescheitert sind. Nun lassen sich eben Adornos Praxisverzicht und Marcuses emphatischer Praxisbezug kontrastieren; gleichwohl meine ich, dass beide eine übereinstimmende, dialektisch zu vermittelnde Position zur Praxis einnehmen. Adorno stellt seinen Praxisverzicht der ›Negativen Dialektik‹ voran, beziehungsweise leitet er damit sein philosophisches Hauptwerk ein – um derart nämlich die Notwendigkeit von Philosophie zu begründen, weil eben der »Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward«. Praxis galt ihm »auf unabsehbare Zeit vertagt«. Seit den späten sechziger Jahren ist die Frage nach emanzipatorischer Praxis aber wieder auf der Tagesordnung, mit allen Problemen und Widersprüchen. Praxis ergibt sich aus der Praxis, lässt sich also nicht theoretisch definieren; bei der Frage, ob Praxis regressiv oder progressiv ist, geht es ja nicht darum, der Praxis einen Namen zu geben – sie wird nicht dadurch besser, wen man irgendeine Gruppe als »Multitude« oder Ähnliches bezeichnet und damit glaubt, ein neues revolutionäres Subjekt benannt zu haben. Grundsätzlich scheint es mir nicht die Aufgabe einer kritischen Theorie zu sein, Praxis normativ zu begründen; die Menschen sind entweder aufgeklärt und mündig genug, ihre Interessen selbst in die Hand zu nehmen, oder sie sind es nicht. Aber die Theorie hat hier keine pädagogische und propagandistische Funktion. Es wäre wohl auch im Sinne Adornos, dass es vielmehr Aufgabe der kritischen Theorie ist, korrigierend und reflektierend Ansätze von vermeintlich radikaler Praxis auf ihre Unzulänglichkeiten hin zu untersuchen und nicht blind dem Aktionismus das Wort zu reden. Gerade angesichts der momentan aufbrechenden antiamerikanischen, auch antizionistischen und pro-islamistischen Grundstimmung in der globalisierungskritischen Bewegung, halte ich einen Rekurs auf Adornos Problematisierung des Theorie-Praxis-Verhältnisses für unabdingbar. Das gilt allerdings dann auch umgekehrt für einen ebenso dummen Pauschalverdacht gegen jede politische Praxis, dass sie immer schon antisemitisch sei.
4. Mit der Globalisierung haben neoliberale Modelle an Einfluss gewonnen, die weltweit zum Abbau sozialstaatlicher Garantien und demokratisch-solidarischer Strukturen geführt haben. Kann der Sozialphilosoph Adorno in dem Streit um den Charakter der Globalisierung als Verfechter und ›Ahnherr‹ der Zivilgesellschaft in Anspruch genommen werden, oder verfällt solche Inanspruchnahme seinem Verdikt, dass es im Falschen kein wahres Leben gebe?
Um an das Praxisproblem anzuschließen: Gerade angesichts des Neoliberalismus, der sich im Zuge der Globalisierung durchsetzt, befinden sich immer mehr Menschen in der Situation, gar keine Wahl zu haben, als die, nicht zu resignieren und zu versuchen, der Not und dem Elend zu widerstehen. In Adornos Satz, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt, steckt meiner Ansicht nach die Doppelfigur, dass es einerseits sehr wohl ein Leben gibt, das auch sein unbedingtes Recht hat, dass allerdings nicht jede Form von gelingendem Leben, vor allem natürlich nicht irgendwelche Freizeitveranstaltungen (Tanzen, Mode, nette Freunde haben etc.) im emphatischen Sinne als »richtiges Leben« deklariert werden können. Hegel sagt, die Fähigkeit des Menschen ist es, Widersprüche auszuhalten, und das kritische Bewusstsein, auf das Adornos Aphorismus aus den ›Minima Moralia‹ reflektiert, drückt dies aus; das meint aber andererseits – und genau das ist die Doppelfigur –, sich eben nicht mit dem zufrieden zu geben, was die Kulturindustrie doch an »Lebensqualität« zu garantieren eigentlich verpflichtet wäre (nämlich Vergnügen, Unterhaltung, Zerstreuung), sondern die soziale Phantasie dafür zu schärfen, dass es mehr gibt als dieses Leben hier; und vor allem: dass dieses Leben hier geändert werden kann, dass hier und heute Möglichkeiten vorhanden sind, eine humane Weltgesellschaft ohne Weiteres einzurichten. Der Begriff der Zivilgesellschaft, soll er nicht nur aus strategischen Gründen Synonym für die kommunistische, emanzipierte Gesellschaft stehen, greift dann aber zu kurz, weil er nichts weiter ist, als eine reformistische Verflachung des utopischen Entwurfs kritischer Theorie. An dieser Stelle muss betont werden: Dass es heute auch darum geht, Menschen erst einmal das Mindestmaß an demokratischen Rechten zu gewährleisten und die bestehenden Verhältnisse wenigstens so weit wie möglich zu reformieren, ist eine politische Selbstverständlichkeit auch für die kritische Theorie; allerdings ist das nur der allgemeinste Ausgangspunkt der kritischen Theorie. Ihre Aktualität besteht vielmehr darin, die radikale Kritik wieder zuzuspitzen: Nämlich einmal an die Wurzel zu gehen und, nach der Marxschen Erklärung, ›ad hominem‹ zu demonstrieren; darin aber einer radikalen Utopie Konturen zu verleihen, die nicht einfach die bestehenden Verhältnisse konsequent, nämlich sozialdemokratisch und reformistisch zu Ende denkt, sondern die bestehenden Verhältnisse negiert und als negative Utopie insofern daran erinnert, dass eine emanzipierte Gesellschaft nicht die verbesserte bestehende ist, sondern eine vollständig andere, verrückte, exzentrische Gesellschaft. Deshalb gilt es, mit Adornos kritischer Theorie die Debatte um die Zivilgesellschaft zu hinterfragen. Im Übrigen kommt an dieser Stelle dann auch Adornos ästhetische Theorie ins Spiel, nämlich die These vom Kunstwerk, das nur dort noch fortbesteht, wo es selbst seinen Werkcharakter negiert. Die Erkenntnis, die in genau solchem Wahrheitsgehalt eingelassen ist, ist die der bestimmten Negation als negative Utopie, ist die Aktualität der kritischen Theorie Adornos.
[Text von 2003]
Ganzer Text als PDF: hier.
(941)