Liebe, Hass und Handlungsfähigkeit
Bekannt ist die Forderung an Erziehung, »dass Auschwitz nicht noch einmal sei«. Eine solche »Erziehung nach Auschwitz«, wie Adorno sie 1966 diskutierte, ist bis heute nicht wirklich realisiert. Spätestens seit dem 7. Oktober 2023 ist dies auf grausamste Weise bestätigt worden; das Leben der Jüdinnen und Juden ist nicht sicher. – Dafür, dass eine »Erziehung nach Auschwitz« womöglich scheitert, hatte Adorno einen Grund angegeben, der heute befremdlich anmutet (weshalb er wahrscheinlich in der Debatte weitgehend ausgeblendet blieb): »Jeder Mensch heute, ohne jede Ausnahme, fühlt sich zu wenig geliebt, weil jeder zu wenig lieben kann.« – Liebe, und hier schließt Adorno an seine frühen Überlegungen zu Kierkegaard an, bezeichnet auch die Fähigkeit zur Identifikation. Insofern konnte Adorno schließen: »Unfähigkeit zur Identifikation war fraglos die wichtigste psychologische Bedingung dafür, dass so etwas wie Auschwitz sich inmitten von einigermaßen gesitteten und harmlosen Menschen hat abspielen können.« (GS Bd. 10·2, S. 687)
Gleichwohl erscheint Adornos Befund anachronistisch, nicht erst heute: Dass Menschen insgesamt liebesunfähig seien, klingt in Zeiten der ubiquitären Inszenierungen von Liebesverhältnissen aller Art durch die Popkulturindustrie unwahrscheinlich; überall Love und ihre Symbole. Überdies können wohl auch Nazis lieben, wie der Film ›The Zone of Interest‹ zeigt.
Andererseits wäre genau das: die spektakulär beschworene Omnipräsenz von Liebe auch als nachdrücklicher Beleg für Adornos Befund zu nehmen. Sicher: heute ist es freundlicher geworden, alle sollen sich lieb haben und lieb zueinander sein, auch und gerade in pädagogischen Beziehungen, wo man berufsmäßig nachgerade selbstverständlich ein liebevolles pädagogisches Apriori unterstellt.
Und trotzdem gibt es ja – nicht weniger omnipräsent, in den Inszenierungen wie auch real – das landläufige Gegenteil von dem, was man landläufig dann Liebe nennt: Hass.
Er tritt offen zutage in Vorstufen und Verschiebungen, die allenthalben im sozialen Miteinander (bzw. vielmehr Gegeneinander) zu beobachten sind; Andreas Gruschka hat das schon vor dreißig Jahren beschrieben als »bürgerliche Kälte« (und in Pädagogik sowie Gesellschaft untersucht): Auch im Anschuss an Adorno hat er »Kälte« als spezifische Form des Unbehagens an der Kultur beschrieben. Mit etwas anderer Gewichtung hat jüngst die französische Psychoanalytikerin Cynthia Fleury eine Studie über Ressentiments vorgelegt (›Hier liegt Bitterkeit begraben‹, Berlin 2023); auch hier wären Rückschlüsse zu diskutieren für eine Erziehung nach Auschwitz.
(Dass indes Adorno nicht von einer »Bildung nach Auschwitz« handelt, ist kritisch gerade in Hinblick auf sein Liebes-Postulat darzulegen: Halbbildung, die auch mit den kulturindustriellen Images der Liebe amalgamiert ist, bietet zahlreiche Möglichkeiten der Identifikation, und hilft so, die Liebesunfähigkeit mit dem Gefühl der Liebe – oder was immer man dafür hält – zu kaschieren.)
Bossa Nova. Fünf Versuche einer Annäherung
Bossa Nova. Fünf Versuche einer Annäherung
(Gesendet im FSK, 16. Oktober 2009, 11.00 bis 12.00 Uhr)
Quais são seus principais interesses?
Quais são seus principais interesses teóricos e práticos atuais?
Uma entrevista com sinal de menos.
Die Jazzmaschine spielt Samba
Der Philosoph Eduardo Silva über die doppelte Kulturindustrie Brasiliens und die Unterschiede zur deutschen Popgesellschaft
Form und Inhalt sind zu unterscheiden: Formal ist Brasilien zum Beispiel von der Kulturindustrie der USA abhängig, aber inhaltlich zeigt sich eine eigenständige, wenn auch heterogene Kultur. Zunächst hat Brasilien, durch seine besondere Kolonialgeschichte, keine klassische bürgerliche Hochkultur, sondern eine traditionelle plurale Kultur – die sich aus europäischen, indianischen und afrikanischen Einflüssen zusammensetzt. Diese im Alltagsleben verankerte Kultur hat mittlerweile auch eine Industrie, weshalb von einer doppelten Kulturindustrie in Brasilien gesprochen werden kann: Eine industrielle westliche Mainstream-Kultur und der Versuch, das Traditionelle Brasiliens ökonomisch zu kulturindustriell geschehen ist, in Brasilien mit Chorinho oder Samba, der Musik aus den Armenvierteln, passierte. Deshalb, so meine ich, ergibt sich von Brasiliens Massenkultur aus ein anderer Blick auf die Kulturindustriethese der Kritischen Theorie.