Geschichte,
Fortschritt,
Subjekt
Zwei Fragen
Was heißt historischer Materialismus in Bezug auf Theorie und Praxis der Geschichte (ist die konkrete, »gelebte« Geschichte in Bezug auf die Idee der Geschichte notwendiger Weise immer – also nicht nur idealistisch begriffen – abstrakt)?
Wie lässt sich Materialismus und Geschichte vermitteln? Also: In welchem Zusammenhang steht der historische Materialismus zur materiellen Geschichte?
x.
Eine Metaphysik der Geschichte ist nicht mehr möglich, weil eigentlich Geschichte nicht mehr möglich ist (im Sinne von »denkbar«, aber auch im Sinne von »machbar«).
Positionslosigkeit (Lukács nannte das »transzendentale Obdachlosigkeit«): Es gibt keinen Punkt mehr, von dem aus die Geschichte als Fortschritt oder gar Emanzipationsprozess erscheint. Die bisherigen geschichtsphilosophischen Modelle wie Hegels Teleologie, religiöse Eschatologie, der Historismus wie Historizismus, aber auch Nietzsches Genealogie sind außer Kraft oder zumindest außer Kurs gesetzt (inwiefern das für Posthistorie, Postmoderne und Poststrukturalismus – etwa Foucaults Archäologie-Konzept – auch gilt, ist zu prüfen).
Damit wird virulent, von welchem historischen Punkt aus sich sagen lässt, dass Geschichte verändert werden kann. Die impliziert ein geschichtliches Problem, das paradox politisch ausgehebelt ist, sich aber gleichwohl scheinbar nur politisch lösen lässt. (Redundanz des Politischen: Politische Praxis agiert immer schon in der Sphäre des Politischen; Politik kann nur politisch bestimmt werden.)
Der Engel der Geschichte
Es ist zu beachten: a) Die Perspektive der Menschen ist eine andere als die des Engels; und b) der Engel hat eigentlich mit der Geschichte nichts zu tun (im Sinne von: er hat sie nicht gemacht, ist nicht für das, was geschehen ist, verantwortlich; aber er fühlt sich verantwortlich, will Geschichte machen, i. e. heilen). – Benjamins Bild wird allerdings häufig und gemeinhin so interpretiert, als seien wir in der Position des Engels, oder als könnte sich das kritische Subjekt ohne weiteres in die Position des Engels bringen.
Die Position des Engels ist paradox (oder parallaktisch): Da, wo er steht, steht er im Zentrum des konkreten Geschehens; zugleich steht er aber in Bezug auf die Menschen in der Peripherie – oder vielmehr: auf der falschen Seite der Gegenwart. Der Engel sieht etwas anderes als das, was uns erscheint.
Zudem: der Engel hat eine Position, steht im linearen Strom des Sturmes; er selbst erscheint zum Zeichen, an dem Fortschritt signifikant wird (wenn ich Benjamins Bild richtig verstehe, bewegt sich in der Geschichte durch den Fortschritt nur der Engel). Eine weitere Paradoxie – oder Parallaxe: Nur in dieser Position, die den Engel gleichsam in der linearen Zeit-Kontinuum festhält ergibt sich allerdings ein Begriff der Geschichte jenseits des Kontinuums und der leeren-linearen Zeit. Das heißt, das Bild genau genommen, ein Begriff der Geschichte, wonach diese im Verlauf immer größer, i. e. immer schlimmer wird – Geschichte als »eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert«. Für uns aber bleibt die Geschichte bloß »eine Kette von Begebenheiten«, mit denen wir irgendwie nichts zu tun zu haben scheinen, die uns merkwürdig äußerlich bleiben.
Und dennoch: in Benjamins Bild machen auch die Menschen die Geschichte nicht. Sie handeln nicht historisch, weil sie sich zur Geschichte nur wie Zuschauer verhalten. Zwar hat auch der Engel die Geschichte nicht gemacht, im Stand der Katastrophe versucht er aber Geschichte zu machen. Mit anderen Worten: der Engel versucht Welt – denn das sind die »Trümmer auf Trümmer« – zu reparieren: »Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen.« Der Engel erscheint als Messias, ist aber kein Messias; er hat nämlich keine Mission, sondern »möchte« – er handelt voluntaristisch. Nötig wäre das, was im messianischen Judentum das Tikkun olam genannt wird; an anderer Stelle hat Benjamin darauf hingewiesen: vom Messias soll »ein großer Rabbi gesagt« haben, »dass er nicht mit Gewalt die Welt verändern wolle, sondern nur um ein Geringes sie zurechtstellen werde.« (Benjamin, ›Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages‹, in: GS Bd. II·2, S. 432) Das bricht mit den bisherigen Vorstellungen geschichtsphilosophischer Teleologie, idealistischen ebenso wie materialistischen: die Bewegung des Fortschritts erscheint hier heraus gebrochen aus dem Kontinuum als Verrückung, gleichsam als Verrücktwerden der Welt.
Keine Mission, weder positive noch negative Selbstrechtfertigung der Geschichte. Schwache messianische Kraft und Prägnanz, »Geschichtslogik«
Diesen Satz, der als Sinnspruch der idealistischen, vor allem Schellings Geschichtsphilosophie gilt, schreibt Schiller in einem Gedicht, das bezeichnenderweise den Titel ›Resignation‹ trägt. Es handelt sich dabei um – ein Liebesgedicht!
Geschichtsphilosophie lässt sich als Mission – des Weltgeistes, der Arbeiterklasse – nicht mehr begründen, jedenfalls nicht mehr teleologisch.
Der Fortschritt rechtfertigt keine Unmenschlichkeit in der Geschichte, rechtfertigt aber auch nicht das abstrakte Ziel der Humanität.
Geschichte lässt sich nicht aus sich selbst heraus legitimieren. Die Dialektik der Aufklärung widerlegt das logische Vertrauen in die Logik der Vernunft.
Die zur Geschichte erklärten Grausamkeiten rechtfertigen allerdings auch kein Ziel.
Geschichte ist aus der Vergangenheit zu bestimmen, ihr Ziel indes aus der unabgegoltenen Vergangenheit. Wenn Marx, ähnlich wie Leibniz, an einer Stelle formuliert, dass die Gegenwart mit der Zukunft schwanger geht, dann ist das nur denkbar, weil die Vergangenheit selbst nicht vergangen ist: weil die Geschichte voll ist mit Zeugungen, die bis heute noch nicht geboren sind. (Vermutlich meint Benjamin das mit »Erweckung der Toten«; dabei geht es mitnichten um Rache und auch nicht um die zur Phrase geronnene Parole, dass niemand umsonst gestorben sein soll; vielmehr geht es darum, dass »auch die Toten … vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein« werden. Denn »dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört«.)
Frage nach dem Subjekt
Einerseits: »In jedem einzelnen Moment der Geschichte, besonders der Befreiungsgeschichte, sind alle enthalten, ist die Ganzheit des zu Befreienden enthalten.« Ernst Bloch, ›Subjekt – Objekt‹ (S. 145)
Andererseits: »Das Subjekt der Geschichte: die Unterdrückten, nicht die Menschheit.« Walter Benjamin (GS Bd. I·3, S. 1244 [gestrichen])
Tautologie: Das Subjekt ist nur geschichtlich zu bestimmen, die Geschichte nur subjektiv. Demnach ist der Mensch als historisches Wesen materialistisch nur in seiner Praxis fassen; Marx verweist diesbezüglich in seiner ersten Feuerbachthese auf »die Bedeutung der ›revolutionären‹, der ›praktisch-kritischen‹ Tätigkeit« (MEW Bd. 3, S. 5).
Das geschichtliche Subjekt ist das revolutionäre Subjekt. Dabei ist der Begriff der Revolution mit der Geschichte selbst identisch: die revolutionäre Geschichte ist eben die, in der sich der Mensch als Subjekt der Geschichte verwirklicht und damit seine Geschichte wirklich macht.
Die revolutionäre Tätigkeit ist mit dem auf die »Politik« reduzierten bisherigen Vorstellungen von Revolution nicht zu verwechseln. Es ist klar, dass sich der bürgerliche Begriff der Revolution auf die bürgerliche Gesellschaft selbst bezieht und beziehen muss. Ein real-humanistischer Begriff der Revolution (oder revolutionärer Humanismus, wie Leo Kofler es nennt) findet seinen Maßstab jedoch nicht in den verdichteten und verhärteten Zuständen der Konterrevolution, sondern im realen Humanismus selbst, in der »wirklichen Bewegung« des Menschen. So wie die bürgerliche Revolution die bürgerlichen Verhältnisse überhaupt erst konstituiert hat, kann letztendlich auch nur die menschliche Revolution die menschlichen Verhältnisse schaffen; so wie aber die bürgerliche Revolution vom Subjekt verlangt, immer schon als Bürger zu agieren, ist für die menschliche Revolution unabdingbar, dass sich der Mensch als revolutionäres Subjekt begreift.
Damit stellt sich das Problem eines Zirkels, wonach sich das Subjekt nur aus sich selbst heraus zu definieren vermag. (Ein Problem der Linken, das in den Selbstinszenierungen der Autonomen in den Achtzigern seinen Höhepunkt fand, und heute in den romantischen Selbstüberhöhungen und Hypostasierungen eines kommenden Aufstands seine Schatten wirft.)
In den bisherigen Geschichtsauffassungen ist das Subjekt immer nur positiv eingesetzt worden: als Täter oder als Opfer. Was emphatisch, d. i. in emanzipatorischer Absicht »Subjekt« heißt, lässt sich allerdings nur jenseits des Täter-Opfer-Schematismus bestimmen – auch wenn dieser Schematismus eine historische Realität hat, die bisher noch unumgänglich und angesichts der geschichtlichen Katastrophe auch politisch irreduzibel erscheint.
Politik zwingt zur Geschichte, die mit dem Politischen bricht. Politik, das Politische, Strategien der Politisierung, überhaupt jede Form der politischen Praxis sind nur aus Aufhebungen zu denken.
Mithin ist das revolutionäre Subjekt kein Kollektivsubjekt mehr (gleichwohl es nur kollektiv handeln kann: in Solidarität, nämlich »im Bewusstsein der Freiheit«, aber nicht, wie Hegel es bestimmt, sondern als Fortschritt im werdenden Selbstbewusstsein der freien Assoziation). Das appelliert an die Einzelnen, durchaus auch Vereinzelten, im Sinne der Benjaminschen Korrektur des Marxschen Bildes von den Revolutionen als Lokomotiven der Weltgeschichte: die Revolution ist der Griff nach der Notbremse – und für diesen Griff braucht es nur einen einzigen Menschen.
Zivilisationsbruch
Survival of the fittest: das ist Überleben durch Anpassung. Erst die Moderne bringt gesellschaftliche Verhältnisse hervor, durch die das von Spencer formulierte und für Darwins Theorie gemeinte Evolutionsgesetz ausgehebelt ist: Anpassung sichert nicht mehr das Überleben. An die durch den Gang des Fortschritts bedingten Zustände von Elend, Armut und Hunger kann sich kein Mensch mehr anpassen; der Kapitalismus, der den Menschen als Naturverhältnis gegenübertritt, hat die als Überlebensfähigkeit geübten Anpassungen in gesellschaftliche Leistungen und Zwänge des Konformismus übersetzt, die den Menschen permanent mit Integration und Desintegration bedrohen. Selbst die Möglichkeit der ideologischen Anpassung ist obsolet; es gibt keinen garantierten Schutz der Tarnung mehr, sich durch Unterordnung und Mitmachen im Alltagsgeschehen durch Unauffälligkeit versteckt zu halten. Ebenso dort, wo die Zivilisation sich gegen ihren unmittelbaren Umschlag in Barbarei behauptet, in der so genannten westlichen Welt, bietet sie keine Sicherheit zu überleben. Das heißt mithin, dass die auch Zivilisation keinen Maßstab mehr darstellt, mit dem sich Geschichte, ein geschichtliches Ziel oder ein geschichtlicher Fortschritt begründen ließe.
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