
Ordnung und Fortschritt.
Notizen zu Sport und Ideologie anlässlich der Olympiade in Rio
In Kürze gibt es hier die Langfassung meiner ›Notizen zu Sport und Ideologie anlässlich der Olympiade in Rio‹, die gerade in der ›iz3w‹ Nr. 353, März/April 2016, erschienen sind.

Laokoon stirbt
Anfang des sechzehnten Jahrhunderts wird in Rom zwischen Ruinen eine Marmorskulptur entdeckt, die als Laokoon-Gruppe berühmt wird und seither im Vatikanischen Museum zu besichtigen ist. Sie zeigt den trojanischen Priester Laokoon und seine beiden Zwillingssöhne im Todeskampf mit zwei von Athena geschickten Schlangen. Die Figurengruppe, die übrigens selbst eine Kopie ist, hat für das Menschenbild der Renaissance und der Neuzeit enorme Bedeutung – auch wenn oder gerade weil sie vom Mythos handelt: Denn hier geht es durchaus um die Wirklichkeit, und überdies um die Frage, inwieweit Kunst geeignet ist, diese Wirklichkeit als solche zu erfassen. Können Schmerz und Leiden mit den Mitteln der Schönheit dargestellt werden? Lässt sich ästhetisch das Sterben anschaulich machen? Bereits in der Antike werden diese Fragen in Hinblick auf die Unterschiedlichkeit der Künste untersucht. Mit der Renaissance entwickelt sich daraus um 1500 der so genannte Paragone, der Wettstreit der Künste, bei dem hauptsächlich Malerei versus Plastik versus Architektur verhandelt wurden (der Streit beginnt 1430 mit Leon Battista Albertis Schrift ›Trattato della pittura‹, in der er sich für die Malerei ausspricht).

Zur Ästhetik des Widerstands
Von den Achtzigern über die Neunziger und Nuller bis heute hat sich die politische Linke in eine Kulturlinke, schließlich ein als »links« verbrämtes Segment der Allgemeinkultur aufgelöst. Aus der radikalen Linken, die sich in den Achtzigern, weil kulturell ungebildet und mit den historischen Aufgaben überfordert, kunst- wie alltagsästhetisch an Politmythen und Agitationsphantasmen der späten 1920er und 1930er orientierte (nicht zuletzt eben auch rückgekoppelt an Literatur wie Weiss’ ›Ästhetik des Widerstands‹) ist eine auf den Dancefloors alternativer Clubs glücklich-hedonistisch zu sich selbst gekommene Restlinke geworden; verstrickt in privatistische Streitereien um Befindlichkeiten und Beleidigungen ist daraus eine Restrestlinke hervorgegangen – und das ist: eine radikale Linke, die faktisch inexistent ist. Hier zu bestreiten dazuzugehören, ist, um es mit Seven of Nine zu sagen, irrelevant und zwecklos: Es interessiert einfach nicht.
Das ergibt heute insofern grundsätzlich eine andere Situation als in den Achtzigern und selbst noch Neunzigern, weil nicht einmal mehr – was ja das große Thema schon in den Dreißigern war und eben von Peter Weiss in der ›Ästhetik des Widerstands‹ aufgegriffen wird – ein Scheitern der Linken konstatiert werden kann: Es gibt gegenwärtig keine Linke, die Scheitern könnte. Als in Rostock-Lichtenhagen 1992 das Sonnenblumenhaus brannte, musste sich die in den Achtzigern offensiv gestärkte Antifa eine Defensive eingestehen, als Ohnmacht und Machtlosigkeit gleichermaßen gegenüber deutschen Erwachsenen, die deutsche Jugendliche dafür beklatschten, in nachgerade Siegesfeierlaune Menschen mit Brandsätzen abzufackeln, und angesichts einer Täter zunächst nicht wahrnehmenden, dann Täter schützenden Staatsgewalt. Mit aller Energie allerdings versuchte die Antifa sich zu behaupten, auch in der Organisation von Solidarität. Nötig war dafür ein neuer, dritter Begriff von Politik / des Politischen, quer stehend sowohl zur staatlichen Politik als auch zum Politischen im Sinne einer gesellschaftlichen Bindungskraft; zurückgegriffen werden konnte dabei auf das Politikverständnis der Achtziger, wonach »politisch sein« synonym gesetzt wurde mit »links sein«. Gekoppelt war das wiederum an die popkulturell verallgemeinerte Parole des Feminismus, dass das Private das Politische sei und vice versa.

Zurück zum Beton
»Wohnen« ist heute weniger eine räumliche Funktion, sondern vielmehr eine individuelle Haltung, die den architektonischen wie sozialen Raum überhaupt erst herstellt: das verlangt ein Individualitätstypus, der sich erst in den 1980er Jahren im Zuge der als postmodern bezeichneten gesellschaftlichen Wandlungsprozesse herausbildete; ein Individualitätstypus indes, der zunächst noch relativ speziell und disparat konfiguriert war, sich aber vor allem dann seit den Nullern mit den alten, zumal familiären Rollenmodellen verkoppelte und allgemein wurde. Zunächst war dieser Individualitätstypus durch zwei Extreme gekennzeichnet, die sich allerdings in ihren Wohnvorstellungen ähnlich waren, wenn auch mit vollkommen entgegengesetzter sozialer Orientierung: Das eine Extrem ist der Yuppie, der Young Urban Professional, der Anfang der Achtziger die urbane Bühne betrat; das andere Extrem ist der autonome Hausbesetzer.

Zur Kritik der Befreiung. Einige Bemerkungen zur Aktualität emanzipatorischer Politik
Auch wenn wir das Wort Emanzipation gemeinhin mit Befreiung übersetzen, so meint der Begriff doch wesentlich mehr, nämlich Freisetzung, Freilassung, Freisprechung und Verselbstständigung. Wenn schon Emanzipation als Befreiung definiert wird, dann also explizit im Sinne der Selbstbefreiung. Die Herkunft des Wortes ist nicht unwichtig; die Aktualität des kritischen Emanzipationsbegriffs kann nur aus der kritischen Begriffsgeschichte gewonnen werden: sie entfaltet sich schließlich aus dem kritischen Begriff der Geschichte. Ein kleiner Gewaltmarsch durch die Eiswüste der Abstraktion scheint nötig, um zum Konkreten zu gelangen, gerade wo neulinke Modetheorien auch den Emanzipationsbegriff mittlerweile bis zur postmodernen Unkenntlichkeit entstellt haben, so dass er schließlich nur noch als Minimalkonsensphrase wieder erkennbar ist. Für die kritische Theorie bleibt die Frage zentral, wovon und wofür emanzipiert wird. Emanzipation ist die praktische Selbstbefreiung des Menschen, oder sie tendiert zum Gegenteil, zur Vernichtung des Selbst.

Aktualisierung des Ungleichzeitigen. Anmerkungen zur Prozesslogik einer mehrschichtigen Dialektik
Kritische Theorie stellt die moderne, spätkapitalistische Gesellschaft als Kulturindustrie dar; alle Kultur ist zur Ware geworden, Aufklärung zum Massenbetrug; die ökonomische Verwertungslogik durchzieht alle sozialen Bereiche, verfestigt die bestehenden Zustände als verwaltete Welt. Zugleich sind diese Verhältnisse allerdings nicht stabil, sondern von einer fortschreitenden Krise gekennzeichnet. Die Wertvergesellschaftung gelingt nur in Widersprüchen; die Phantasmagorien der Warenwelt bringen das, was wir zeitgemäß, aktuell oder modern nennen, nur als ungleichzeitigen Zusammenschluss von höchster Fortschrittlichkeit und urgeschichtlichen Motiven hervor: Mit den neuesten Techniken der Computeranimation werden Dinosaurier wiederbelebt, im Science Fiction gelingt es der Menschheit, weit in die Zukunft vorzudringen, um dann doch auf die Ursprünge zu stoßen, die Traumhölle am ›Event Horizon‹. – Dieser kollektive Traum einer Gesellschaft, die, wie es Walter Benjamin in seinem dialektischen Bild faßt, träumt, daß sie erwacht sei, um so von den bedrohlichen Weckreizen nicht in ihrem Schlaf gestört zu werden, wird doch individuell in je verschiedenen, verzerrten und verborgenen Wunschbildern geträumt: Es ist das Unabgegoltene, das sich als Utopisches im Vorbewußtsein ebenso manifestiert wie Regressives, Reaktionäres im Unbewußten und falschen Bewußtsein. Ernst Bloch akzentuiert als Hoffnungsphilosoph, ohne die Kritik an den gegenwärtigen Zuständen zu schmälern, diese Aspekte des subjektiven Faktors. Dafür entwickelt er in ›Erbschaft dieser Zeit‹ das Konzept der Ungleichzeitigkeit, um so die »Hohlräume« auszuleuchten, in denen eine mehrschichtige Dialektik zugleich den Kitt bildet, der zusammenhält, was im selben Augenblick von ihr gesprengt zu werden vermag.