Streifzüge 71

Die Streifzüge 70 (Herbst 2017) sind erschienen. Thema: ArbeitsLOS.
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Elvis the Pelvis. Zum Arbeitslos in der Popkulturindustrie

Kunst kann jede und jeder: ein Bild malen, sich ein Gedicht ausdenken, mit Gegenständen Klänge erzeugen etc. Manchmal ist das Arbeit – im Sinne von Mühe; meistens ist es Spiel – im Sinne von Vergnügen. Als soziales Verhältnis werden die Kunst und die künstlerische Tätigkeit definiert: Jede und jeder Kunst kann machen – aber ob diese Kunst ihren Wert hat, ob sie nämlich in irgendeiner Weise als soziales Verhältnis bestimmt werden kann, wird gesellschaftlich entschieden. Mit der Moderne emanzipiert sich der ästhetische Wert der Kunst – und zwar im selben Maßen, wie die Moderne am ökonomischen Wert ausgerichtet wird: Die Kunst wird zum Reservat einer Gebrauchswertproduktion, die in ihrer – vermeintlichen – Eigenlogik scheinbar von jeder Tauschwertproduktion enthoben ist: Während der Kapitalismus die Massen in ein lohnarbeitendes Proletariat verwandelt, erscheint der Künstler als Inkorporation der freien, schöpferischen Tätigkeit. So repräsentiert – zumindest ideologisch – die Kunst die Möglichkeit des nichtentfremdeten Lebens, bildet in, mit und als Kultur ein von der elenden Realität abgehobenes Welt- und Wertereich.

Diese Illusion der freien, schöpferischen Tätigkeit der Kunst übernimmt die Kulturindustrie als Ideologie der Arbeit – und verkoppelt die ästhetischen Werte unverhohlen mit den ökonomischen des Profits, erklärt den Tauschwert nachgerade zum Gebrauchswert. Auch der Künstler »verkauft seine Arbeitskraft. Er ist privilegiert nur insofern, als er scheinbar freier als die meisten anderen über seine Arbeitskraft verfügt. Doch auch das ist sehr optimistisch. Denn er muss seine Arbeitskraft meist in einer ihm aufgezwungenen Weise einsetzen. Er ist auf Erfolg angewiesen. Denn erst Erfolg bestätigt ›Qualität‹ und ›Originalität‹, zumindest ökonomisch«, schreibt Urs Jaeggi (›Literatur und Politik‹, Ffm. 1972, S. 11), und zitiert dazu Adorno: »Solange Kunst überhaupt nach Brot geht, bedarf sie derjenigen ökonomischen Formen, die den Produktionsverhältnissen einer Epoche angemessen sind, und als erste konformieren die, welche über Managertum und Profitinteresse am lautesten sich entrüsten, der Nachfrage auf dem Markt.« (GS 10·1, S. 334)

»… Es kann die Befreiung der Arbeiterklasse nur die Sache der Arbeiter sein …« Diese Befreiung ist praktisch, ist »revolutionäre Tätigkeit« (Marx), verlangt Körpereinsatz: »Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm das will!« – Was passiert, wenn die Arbeiterklasse nun nicht mehr kraft ihres starken Armes die Produktion anhält, sondern – ganz im Gegenteil – mit einem Hüftschwung die Produktion überhaupt erst in Bewegung setzt? Ist dann die Befreiung der Arbeiterklasse immer noch Sache der Arbeiter? – »The nickname Elvis the Pelvis derived from his notoriously suggestive hip-waggling performing style, which he had copied from Black performers he had seen.« (Aus einem Musiklexikon)

Nach der Schule war es zunächst ein einfacher Job, eine Gelegenheitsarbeit, mit der der gerade erst Siebzehnjährige sein erstes Geld machte. Er fuhr geradewegs zu Sam Philips Memphis Recording Service, um dort für ein paar Dollar eine Schallplatte aufzunehmen – als Geschenk für seine Mutter, zwei Balladen, nämlich ›My Happiness‹ und ›That’s When Your Heartache Begins‹: »Evening shadows make me blue / When each weary day is through / How I long to be with you / My happiness«, lauten die ersten Zeilen der ersten Aufnahme, für die Elvis Presley gesungen hat. Das war 1953. »Evening shadows make me blue / When each weary day is through« – »Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug«, heißt es prominent bei Hegel in der Vorrede zur ›Rechtsphilosophie‹. Der junge Elvis, ein Proletarierkind (die Mutter Textilarbeiterin, der Vater Landarbeiter), der sich schon früh für die Gospelmusik begeistert und immer wieder Gottesdienste der afroamerikanischen Gemeinde besucht, der junge Elvis also, dem das Gesangstalent zugute kommt, nicht als Tagelöhner zu enden, versucht und findet sein Glück in der Kulturindustrie, die sich im – damals noch recht losen – Medienverbund von Radiostationen, Tonstudios und Presswerken gerade vom Filmgeschäft auf das Musikgeschäft ausweitet und verlagert (die Langspielplatte gibt es seit 1948, das Singleformat seit 1948/49, abspielbar mit 45 Umdrehungen pro Minute werden sie 1954 eingeführt; die großen Filmkonzerne etablieren sich nun auch in der Musikindustrie; die Charts werden in den 1950er Jahren noch häufig von Filmmusik & Kinosoundtracks angeführt; Radiostationen finden in den vielfältigen Formen der neuen populären Musik ihre Domäne etc.). Elvis, der zunächst noch wie alle, die bei Sam Philips eine Platte aufnehmen wollen, Kunde ist, macht weitere Schallplatten, die dann berühmt über Philips Label Sun records vermarktet werden; Elvis, der zwischenzeitlich als Lastwagenfahrer im Baugewerbe unterwegs ist, hat nun mit Sun Records einen Vertrag, ist jetzt Künstler. 1955 verkauft Philips den Vertrag mit dem damals zwanzigjährigen Elvis Presley an RCA Records. Die ersten Veröffentlichungen bei RCA Records – u. a. der Song ›Heartbreak Hotel‹ – machen Elvis Presley berühmt; erst ist jetzt der King of Rock ’n’ Roll, ein Mega-Star und die in seinem Namen produzierten Waren sind bestseller.

Karl Marx notiert in seinen ›Theorien über den Mehrwert‹: »Dieselbe Sorte Arbeit kann produktiv oder unproduktiv sein. Z. B. Milton, who did the ›Paradise Lost‹ for 5 Pounds Sterling war ein unproduktiver Arbeiter. Der Schriftsteller dagegen, der Fabrikarbeit für seinen Buchhändler liefert, ist ein produktiver Arbeiter. Milton produzierte das ›Paradies Lost‹ aus demselben Grund, aus dem ein Seidenwurm Seide produziert. Es war eine Betätigung seiner Natur. Er verkaufte später das Produkt für 5 Pfund.« Der popideologischen Stilisierung folgend, ist ein »Künstler« wie Elvis Presley nicht sehr von Milton oder dem Seidenwurm unterschieden: hier singt einer, der nicht nur singen kann, sondern singen muss; und allein, ihn, der mit guter Gewinnbeteiligung eingespannt war in die allgemeine kulturelle Produktion von waren mit hohem, scheinbar selbstgenerativen ästhetischen Gebrauchswertversprechen, in der Branche als »Künstler« zu führen, reproduziert das Star-Image, wonach der King eben König ist, nämlich eine eigentlich in seiner gesellschaftlichen Zeit und vor allem in seiner gesellschaftlichen Lage anachronistische Figur. Indes: ein echter König wäre der Popstar, wenn er sein Leben genießen könnte, wenn sein Reich, über das er herrscht (der Rock ’n’ Roll), ein Reich der Freiheit wäre, das ihn von jeder Mühsal und Last befreit, wenn er also im guten, echten kommunistischen Sinne arbeitslos wäre. Allerdings gibt es dieses Reich der Freiheit nur als Schein, als billig zu habende Imitation menschlicher Würde, bestenfalls für kleine Momente realisiert in der Dreifaltigkeit von Sex & Drugs & Rock ’n’ Roll.

Die Drogen waren es, so wird vom König und seinem Aufstieg und Fall berichtet, die ihn fertig gemacht und schließlich umgebracht haben. Tatsächlich war das Reich, über das der King of Rock ’n’ Roll herrschte, das immer noch und bis heute bestehende Reich der Notwendigkeit; der König trug nicht einmal eine Krone, sondern verzierte lediglich seine Arbeitskleidung mit etwas Glanz und Glitzer. ›50,000,000 Elvis Fans Can’t Be Wrong‹ heißt das neunte Studioalbum von Presley, das 1959 bei RCA erschien (der Titel, so ist bei Wikipedia nachzulesen, kam erst 1962 auf die Plattenhülle …); Elvis trägt die Hausuniform des gewöhnlichen Angestellten, einen Anzug – jedoch: der Schnitt macht ihn zur Freizeitgarderobe eines Partygängers, und der Anzug ist aus goldenem Samt geschneidert. 50 Millionen Fans, also Käufer und Konsumenten können sich nicht irren! Elvis ist dann doch, anders als Milton und der Seidenwurm, ein produktiver Arbeiter. Noch einmal Marx: »Eine Sängerin, die auf ihre eigene Faust ihren Gesang verkauft, ist ein unproduktiver Arbeiter. Aber dieselbe Sängerin, von einem entrepreneur engagiert, der sie singen lässt, um Geld zu machen, ist ein produktiver Arbeiter; denn sie produziert Kapital.«

Elvis Aaron Presley (1935 bis 1977) »remains the quintessential pop star. He was also the best-selling solo artist of all time, with sales of some 150 million records in all, including over 94 gold singles and some 40 gold albums.«

[Längere Fassung der »Rückkopplungen«-Kolumne ›Ein produktiver Arbeiter‹]

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