Anmerkungen zum Wetter

»Der Himmel war eine ganz schöne Zugabe zu dem eben gewonnenen schmalen Erdstrich, zumal da er das Wetter macht.« Marx, ›Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte‹ (in: MEW Bd. 8, S. 203.)

»Alle reden vom Wetter, wir nicht!« Dass sich ausgerechnet die Bahn diesen Spruch einmal als Werbeslogan aussuchte, kommt nicht von ungefähr: seit ihrer Erfindung im 19. Jahrhundert gilt die Eisenbahn als das Symbol des Fortschritts schlechthin, und der Fortschritt soll eben vom Wetter unabhängig sein. Umgekehrt kennt das Wetter keinen Fortschritt, keine geschichtliche Progression, sondern nur den Wechsel, die Wiederkehr der Jahreszeiten, den Umschwung, das Klima und die Temperatur, festgelegt in Zonen. Die Moderne ist der Versuch, das Wetter nicht nur zu beherrschen, sondern es zu überwinden, es abzuschaffen. Das Wetter selbst bleibt ziellos, während das Ziel der Moderne das ewig schöne und gute Wetter ist: Charles Fourier plante die Abschmelzung der Polkappen mit künstlichen Sonnen und wollte so den Sozialismus in einem permanenten Hochsommer einrichten. Der realkapitalistische Kompromiss ist bekanntlich der Urlaub, der touristische Platz an der Sonne; jede Reise soll zu einem ›Kurzen Sommer der Anarchie‹ werden. Ohnehin versucht die Moderne sich als ein einziges Sommerspektakel zu inszenieren: Lag in vorkapitalistischen Gesellschaften die Zeit des Feierns und der Feste im Winter, so wird sie im bürgerlichen Zeitalter auf den Sommer verschoben; Beherrschung der Natur durch Aufhebung des Wetters, indem die Kultur jeden Sommer zum »Summer of Love« macht, zu einer Aneinanderreihung von Festivals. Hier wird mit Mitteln des Pop versprochen, was dereinst die Revolutionen – und die großen fanden zumeist im Winter statt – forderten: die emanzipierte Gesellschaft der freien Assoziation. Gerade in der Popkultur wird die Zelebrierung des Sommers zum Ritual, zum Mythos der Wiederkehr, wenn der Neoliberalismus diese Nachhaltigkeit und Wiederholbarkeit der Lebensbedingungen nicht mehr garantiert: das gute Wetter suggeriert das gute Leben, wenigstens nach Feierabend in der Beach-Bar, oder – wie schon im 19. Jahrhundert – am Sonntag; die Sonne bleicht auch die Klassenunterschiede aus.
Während der Winter gerade wegen der Starre auf Veränderung drängt, verheißt jeder Sonnentag im Sommer die Utopie, dass von nun an alles so bleibt, dass das Wetter still- und abgestellt werden könnte. Erst in der Moderne sind übrigens gutes und schönes Wetter synonym, gerade weil man sich das Wetter von seinem ökonomischen Nutzen abgekoppelt wünscht. Das Wetter soll ganz zur Freizeit des modernen Menschen gehören, nicht zum System der abstrakten Arbeit. Heute wird das ganze Jahr gebaut, das Schlechtwettergeld ist gekürzt; Hitze- oder Schneefrei sind Ausnahmefälle, die dann gelten, wenn das Wetter in Unwetter umschlägt. Anders als die feudale Agrarwirtschaft ist die kapitalistische Produktion zumindest ihrem Ideal nach vom Wetter unabhängig.
Heute sagt man: »Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung«, doch gerade für die Moderne ist dieser Satz falsch: Im Kapitalismus, mit der Entstehung der Sphäre der Freizeit, gibt es das erste Mal schlechtes Wetter (kurzum: in der Natur gibt es kein schlechtes Wetter, nur in der Kultur). Das schlechte Wetter wird sogar zum Missstand, wird medial gerne zum sozialen Übel erklärt: In den Nachrichten sieht man die Menschen in den Büros oder auf der Baustelle unter der Hitze leiden; dass nicht die Sonne das Leiden verursacht, sondern der ökonomische Zwang der Verwertungslogik, wird nicht einmal in Erwägung gezogen. Glücklich ist in diesen Sommertagen, wer entweder Urlaub hat, oder unabhängig vom Wetter produzieren und konsumieren kann.
Trotzdem bleibt das Wetter eine allgemeine Gewalt der Natur, der die moderne Kultur nach wie vor ausgesetzt ist. Das Wetter bricht immer wieder in die Moderne ein, durchkreuzt die Geschichte in einer Abfolge von Katastrophen, die tatsächlich auf die Abschaffung des Wetters hinauslaufen könnten (Stichwort Treibhauseffekt). Kaum eine Wettervorhersage stimmt und alle Versuche, das Wetter zu beeinflussen, scheiterten bisher – auch Wilhelm Reichs Regenmachmaschine (vergleiche Kate Bushs ›Cloudbusting‹ von 1985), der die wahnwitzige Annahme zugrunde liegt, dass das Wetter eine Charakterpanzerung, eine psychische Verhärtung der Natur ist. Auch die einfache Technik greift nicht wirklich ins Wetter ein: Heizungen und Klimaanlagen vermögen künstlich Wärme oder Kälte zu liefern, aber das Wetter können sie nicht gezielt verändern. So zeigt sich, dass sich gerade mit den modernen Unternehmungen, die Natur zu beherrschen, die Moderne selbst in einen Naturzustand verwandelt – für den das Wetter dann ein selbstverständlich natürlicher Ausdruck ist. Walter Benjamin, der sich ohnehin für den Zusammenhang von Wetter und Moderne interessierte, hat dazu in seinem ›Passagen-Werk‹ notiert: »… Moden, ja selbst das Wetter sind im Innern des Kollektivums was Organempfindungen, Gefühl der Krankheit oder der Gesundheit im Innern des Individuums sind. Und sie sind, solange sie in der unbewussten, ungeformten Traumgestalt verharren, genauso gut Naturvorgänge, wie der Verdauungsprozess, die Atmung etc.« (GS Bd. V·1, S. 342) Das Wetter als Restnatur inmitten einer Welt, die sich als vollständig kultiviert begreift; und umgekehrt: das Wetter als Kultur getarnte Natur in einer auf den Naturzustand zurückgeworfenen Gesellschaft. Dass Benjamin hierbei Wetter und Mode zusammenbringt, verweist auf deren Strukturähnlichkeit in der Moderne. Gewissermaßen tangiert das Wetter den modernen Menschen genau dort, wo er modern wird, nämlich in der Mode. Und die Mode bleibt vom Wetter abhängig, ordnet ihre Kollektionen nach Saisons und übernimmt das wesentliche Prinzip des Wetters: die ewige Wiederkehr. Gerade in der Mode hat man sich im Verlauf des letzten Jahrhunderts an das Wetter angepasst und auf die Jahreszeiten eingelassen, jenseits von sozialen Konventionen. Im selben Maße, wie die Mode quasi zum natürlichen Ausdruck des Wetters wird, verliert sie ihre soziale Signifikanz und wird von den sozialen Klassen unabhängig. Auch hier ist ein Rückblick ins 19. Jahrhundert aufschlussreich: Seurat malte die Sonntagsausflügler auf der Seine-Insel La Grande Jatte – Angestellten, Bürger; am Montag fand man hier die Arbeiter, deren Alltag Roger Jourdain in seinen Bildern eingefangen hat. Die Arbeiter waren auch in ihrer spärlichen Freizeit Arbeiter, verhielten sich wie Proletarier und trugen zu jedem Wetter die Kleidung ihrer Klasse. Die Angestellten hingegen versteckten ihre Klassenlage in der Sonntagskleidung, verhielten sich als Freizeitbürger, nicht als Buchhalter oder und Verkäuferin. Ihre soziale Stellung findet nunmehr darin ihren Ausdruck, inwiefern sie sich dem Wetter angemessen zu kleiden vermögen. Seither ist dies die soziale Funktion des Sommers für die kapitalistische Klassengesellschaft: die Geschichte der Mode zu überantworten und eben die Tatsache, dass es sich aus ökonomischen Gründen um eine Klassengesellschaft handelt, dem Wetter angemessen zu verkleiden und – bei der anhaltenden Hitze buchstäblich – zu reduzieren. Und am Ende reden dann doch alle vom Wetter.

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