Die Ästhetisierung der Politik
Walter Benjamin verließ am 17. März 1933 das nationalsozialistische Deutschland und ging ins Exil. 1936 erschien in französischer Übersetzung Benjamins Aufsatz ›Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‹ in der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹. Benjamin schrieb die erste Fassung seines umfangreichen Essays von September bis Dezember 1935; die zweite Fassung, die Benjamin als »Original« bezeichnete, lag im Februar 1936 vor – auf ihr basierte die Übersetzung von Pierre Klossowski, beide Fassungen entstanden in Paris. Bis zum Frühjahr 1939 arbeitete Benjamin noch an einer dritten Fassung. Auf der Flucht vor den Nazis stirbt Benjamin am 26. September 1940 in der spanischen Grenzstadt Port Bou.
›L’œuvre d’art à l’époque de sa reproduction mécanisée‹ war der erste Text in französischer Sprache in der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹, der das Institut im Ausland bekannt machen sollte. Das mag ein Grund dafür sein, dass Max Horkheimer – als Institutsdirektor und Herausgeber der Zeitschrift – die politische Terminologie entschärft haben wollte und die Streichung des gesamten ersten Abschnitts billigte. Bemerkenswert ist, dass es um die Veröffentlichung des Textes zwar eine große Kontroverse gab, die Resonanz allerdings weitgehend ausblieb, bis dann schließlich der Essay im Kontext der politischen Bewegungen der Achtundsechziger als einer der wichtigsten Beiträge zur marxistischen Kulturtheorie entdeckt wurde.
In der ersten Folge diskutieren Kerstin Stakemeier und Roger Behrens mit Esther Leslie über Benjamins Konzept der Ästhetisierung der Politik. Esther Leslie lehrt am Birbeck College, University of London, und hat zum Thema u.a. veröffentlicht: ›Hollywood Flatlands — Animation, Critical Theory and the Avant-Garde‹, Verso: London et al. 2002; ›Walter Benjamin: Overpowering Conformism‹, Pluto Press: London et al. 2000
Walter Benjamin: »Der Faschismus versucht, die neu entstandenen proletarisierten Massen zu organisieren, ohne die Eigentumsverhältnisse, auf deren Beseitigung sie hindrängen, anzutasten. Er sieht sein Heil darin, die Massen zu ihrem Ausdruck (beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen zu lassen. […] Der Faschismus läuft folgerecht auf eine Ästhetisierung des politischen Lebens hinaus. […] So steht es um die Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt. Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst.«
Kerstin Stakemeier: Das Zitat stammt aus dem Nachwort von Benjamins des Aufsatz. Dafür, dass dieser Text sich weiterhin aktualisiert, im Politischen wie im Künstlerischen, ist sein Titel Anzeichen. Benjamins Aufsatz verfolgt nicht die Entwicklung der Künste, sondern die der Produktion. Er zeigt den gesellschaftlichen Stellenwert des Kunstwerks im historischen Moment seiner technischen Reproduzierbarkeit.
Die künstlerische Produktion wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts als weiterer Produktionszweig in die kapitalistische Massenproduktion integriert. Aber mit der Einordnung der Kunstproduktion in den Rahmen der Massenproduktion endet nicht die Kunst. Vielmehr bestimmt sich ihr möglicher Einflussbereich neu, und mit ihm der der Massenproduktion selbst. Benjamin beschreibt den gegenseitigen Übergriff von Massenproduktion und künstlerischer Produktion aufeinander: die »Ästhetisierung des Politischen«, die er im Nationalsozialismus heraufziehen sieht, ist ihre Folge. Die Stellung der Künste im NS war nicht spezifisch reaktionär, sondern spezifisch fortschrittlich im Sinne des Kapitalismus: sie brachte das Zusammenspiel der künstlerischen Aura des Unmittelbaren mit der verwaltenden Distanz des Politischen; die Jenseitigkeit der Hochkultur mit der fordistischen Entwicklung des Politischen. Benjamin stellt den historischen Moment fest, in dem die ideologische Trennung von Basis und Überbau sich auflöst, da beide zur Basis werden. Er beschreibt den Punkt, an dem die Kultur (im Film) die Massen aufgreift, und hofft darauf, dass die Massen zurückgreifen. Benjamin sieht den Film als die geschichtliche Möglichkeit der Massen auf die Kunst als auf ihre Produktivkraft zuzugreifen, da dieser schon auf Grund seiner arbeitsteiligen Produktion potentiell kein Instrument des genialen Künstler-Subjekts, sondern eines der Massen sei. Die bürgerliche künstlerische Selbstverwirklichung könnte in ihm zurückweichen zu Gunsten einer kollektiven Verwirklichung. Doch es entstand keine aktive Kollektivität aus der Selbsterkenntnis der Massen, sondern die Fortsetzung ihrer unsolidarischen Verwaltungseinheit: die Nation. Die technische Reproduzierbarkeit wurde nicht zur Erkenntnis über den ästhetischen Charakter aller Produktion, sondern zur Ästhetisierung der Produktionsverhältnisse. Diese praktische Erkenntnis, die »Politisierung der Kunst« war im revolutionären Russland bis um 1930 realisiert worden, als Versuch aus der Reproduzierbarkeit der Kunst die Reorganisierung der Reproduktion zu entwickeln: als Kunst im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit aus der Perspektive kollektiver Produktion .
Esther Leslie: An dem Zitat fällt mir zuerst die Verwendung des Wortes ›Ausdruck‹ auf. Die Massen kommen zu ihrem Ausdruck, aber nicht zu ihrem Recht. Tatsächlich drücken sich die Massen im Film aus – sie hinterlassen einen Abdruck ihrer Anwesenheit –, aber sie sind nicht gegenwärtig; man kann sagen, sie sind zwar formal, aber nicht politisch – nämlich nicht selbst – ›repräsentiert‹. Das Bild der Massen hat sich der Film angeeignet. Sie sind mit Nichts zurückgelassen: eben ohne Rechte. Das ist keine Repräsentation in irgendeinem politisch bedeutungsvollen Sinne, sondern vielmehr bloße Repräsentation, ja, eine Repräsentation eines Nichts. Film ist nicht länger, wie Benjamin zuvor in seinem Essay ausführte, das Produkt eines Kameramanns als sezierender Chirurg. Der Kinoblick erscheint mit seiner aufteilenden und auflösenden Wirkung nicht mehr als Schnitt durch die naturhafte Erscheinung des Alltagslebens gleich dem chirurgischen Instrument, das sich der Tendenz des Films widersetzt, nur die Oberfläche zu spiegeln. Für Benjamin war diese operative Zerlegung – eine Untersuchung der Welt in Großaufnahme, die Verbindung von Dingen durch Montage, die Bewegungsanalyse durch Zeitlupe und so weiter – Moment eines kritischen, wissenschaftlichen Zugangs zur Welt, durch den »ein vielfältig zerstückeltes« Bild entsteht, »dessen Teile sich nach einem neuen Gesetz zusammenfinden«. Mit der »Vergewaltigung der Apparatur« durch den Faschismus erfasst der Film bloß die Wirklichkeit als Oberfläche – was allerdings eine getreue Wiedergabe in der Weise ist, wie es Marx vom Warenfetisch beschrieben hat: Gezeigt werden die Dinge »wie sie wirklich sind«. Dies repräsentiert exakt die Entmachtung – die Entrechtung – der Subjekte. Jedoch ist dies eine genaue Darstellung eines falschen Zustands der Verhältnisse. Ästhetisierung – um es anders zu benennen – ist die Verführung des Auges. Politik, die Benjamin ansonsten als körperliche, somatische Aktivität beschreibt, wird zur bloßen Angelegenheit passiver Konsumtion. Tatsächlich ist dies ein Reagieren, wie Benjamin in Vorarbeiten zu dem Essay notiert: Nur die »reagierenden«, »geschlossenen« Massen finden in diesen Erzeugnissen ihre befriedigende Form der Repräsentation – und Benjamin denkt hierbei vor allem an Massenaufmärsche und ähnliches. Die Massen, die von der Politik erfasst sind, oder die – mit anderen Worten – selber handeln, lösen sich auf, werden in ihrem Handeln durchlässig. Solche Auflösung mag die Fähigkeiten der modernen Kameratechnik herausfordern – Einzelbildfolgen, Beweglichkeit, Verformung, Geschwindigkeit, Gleichzeitigkeit, Montage, Überblendung, Zeitverschiebung und dergleichen. Aber die faschistische Kameratechnik verzichtet darauf weitgehend, vermittelt stattdessen ein visuelles Ereignis, das lediglich monumental ist und äußerlich gegenüber den Subjekten bleibt.
Roger Behrens: Bei der Ästhetisierung der Politik durch eine faschistische Kameratechnik denkt man wahrscheinlich zunächst an die Filme Leni Riefenstahls, etwa ›Triumph des Willens‹ von 1935 über den Nürnberger Reichsparteitag von 1934. Siegfried Kracauer schreibt 1942 über die »Show« ähnlich wie Benjamin, sie gab vor, »ein Ausdruck des wirklichen Daseins des Volkes zu sein.« Die Massen sind hier Ornamente und »diese lebenden Ornamente perpetuieren nicht nur die Metamorphose des Augenblicks, sondern stellten symbolisch die Massen als instrumentelle Großeinheiten dar.« – Benjamin hat vermutlich den Film gekannt, es ist aber fraglich, ob die faschistische Kameratechnik sich auf solche (Film-) Ästhetik beschränkt, ob sie nicht vielmehr eine Verdichtung einer allgemeinen Ästhetisierung der Politik darstellt. Benjamin expliziert seine These zum Ende des Essays vor allem anhand der italienischen Futuristen – und Beispiele des Films sind zuvor Charlie Chaplin und Disney beziehungsweise Micky Maus. Es heißt: »Alle Bemühungen um die Ästhetisierung der Politik gipfeln in einem Punkt. Dieser eine Punkt ist der Krieg.« – Die Ästhetisierung nimmt nicht ihren Ausgangspunkt im Nationalsozialismus, sondern kulminiert sozusagen im Sonderfall faschistischer Politik. Der Normalfall besteht vielmehr in der Durchsetzung eines neuen Typus von Alltagsleben, welches ich ähnlich wie Kerstin darin charakterisiert sehe, dass Basis und Überbau zu einem Block verschmelzen. Wichtig ist hierbei, was Benjamin unter Politik versteht, sondern das allgemeine Verhältnis von Individuum, Staat und Gesellschaft, unter Bedingungen der fortgeschrittenen kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Im Fordismus ist der Mensch immer schon ins politische Verhältnis gesetzt – der homo oeconomicus und das zoon politicon konvergieren zum Individuum, welches in der Masse oder als Masse seinen einzigen Ausdruck findet. Der Alltag – und eben selbst der Krieg – wird zu einem ästhetischen Ereignis. An anderer Stelle schreibt Benjamin, »dass die Zeiten der Ästhetik in jedem Sinne … vorüber sind«. Indes haben die Zeiten der Ästhetisierung gerade erst – Anfang der dreißiger Jahre – begonnen. Man kann sagen: für die Kunst sind die Zeiten der Ästhetik vorbei. Ästhetik betrifft nicht mehr den besonderen Fall der Kunst, sondern kennzeichnet den allgemeinen Zustand der Politik; nur noch vermittelt über die Politik kann Kunst ästhetisch sein. Es gibt »keinen neutralen Boden der Kunst«. Die Ästhetisierung bleibt jedoch nicht auf den Faschismus beschränkt, sondern es ist eine bestimmte Ästhetisierung, welche der Faschismus betreibt. Diese bestimmte Ästhetisierung ist zudem nicht bloß die offenkundige Ideologie der Propaganda, sondern schließt das ein, was Peter Brückner einmal die »Faschisierung des Subjekts« genannt hat. Wichtig scheint mir dabei, dass Benjamin – wie übrigens auch Adorno – den Komplex von Kunst, künstlerischer Produktion sowie Rezeption und Ästhetik in Hinblick auf die Totalität der kapitalistischen Verhältnisse diskutiert.
EL: Sicherlich sieht auch Adorno die künstlerische Produktion in der kapitalistischen Produktion insgesamt zusammengefasst, und Benjamin wäre damit in den Grundzügen einverstanden; es ist absolut richtig, dass es die kollektive Produktion ist, die den Film so wichtig macht. Allerdings tendiert Benjamin dazu, sich mehr mit der Erfahrung von Kunst oder Kultur zu beschäftigen, als mit dem umfassenden Ort der Kunst und Kultur innerhalb des Kapitalismus. Der Schwerpunkt liegt in der Frage, was ein Kunstwerk oder was Kultur mit uns – als Betrachter – macht, wie oder ob unsere Position in der Welt dabei reflektiert wird, wie unsere Subjektivität mobilisiert wird. Es ist mehr eine Innen- als Außenperspektive. Häufig vergleicht Benjamin die Erfahrung mit dem Träumen – mitunter erscheint der Industriekapitalismus insgesamt als Traum. Deshalb ist die Kultur so durchlässig und anfällig für Traumelemente – genauso wie jede Erfahrung; aber dies kann nur sichtbar gemacht werden, wenn es als Vergangenheit erscheint. Wie der Traum ist auch der Film über die Rezeption der Zerstreuung verstehbar. Wie passen aber die Zerstreuung und die kritischen, analytischen Potenziale des Films zusammen? Dies führt zurück zur Idee der Lücke, der Begrenzung von Innen und Außen kultureller Ereignisse; man darf sich nicht vom Material einnehmen lassen – Brecht wollte im Zuschauerraum rauchen, um sich nicht selbst zu verlieren.
Ohnehin ist Brecht in Bezug auf die Politisierung der Kunst sehr wichtig für Benjamin – die Politisierung der Kunst in einem nicht-kommunistischen Kontext erfordert etwas andere Maßnahmen als in einer nachrevolutionären Situation. Es ist interessant, dass Sowjet-Modernismus und Brecht als Kunst wieder erkennbar sind, obwohl diese Kunst politisiert wurde. Benjamin ist kein Verfechter simpler Propaganda; er weiß sehr wohl, dass jede Kunst ohnehin politisch ist – sei es ideologisch kodiert oder politisch hinsichtlich der Stellung der Rezipienten und ihrer eigenen Ansprüche sowie der herrschenden sozialen Verhältnisse. Die Politisierung der Kunst macht einfach die Beziehung zwischen Kunst und dem Politischen deutlich und praktisch handhabbar.
KS: Esthers Hinweis auf Brecht finde ich entscheidend. Benjamin schrieb diesen Essay 1935/36. Er hatte wenig Anlass auf eine Politisierung der Kunst außerhalb kapitalistischer Verhältnisse zu hoffen: die Revolutionen waren gescheitert oder durch faschistische Konterrevolten überrannt, in Russland hatte Stalins Realismusdoktrin den Konstruktivismus; Materialkultur (W. Tatlin) und Produktivismus (B. Arvatov) verdrängt. Hier endete die Politisierung der Kunst, indem sie auf die Ästhetisierung der Produktion verpflichtet wurde. Im kapitalistischen Westen fiel die direkte Verpflichtung nach 1945 weg. Sie war unnötig. An der Historisierung konstruktivistischer Versuche der Politisierung der Kunst zeigten sich ihre innerkapitalistischen Grenzen: sie hatten versucht das Exzeptionelle des Künstlers und der Kunstobjekte aufzulösen; den Betrachter zum Produzenten zu machen. Die Banalität der Produktion wollte den potentiellen Raum der Kunst ausweiten. In den progressiven Momenten des Bauhauses (L. Moholy-Nagy) war es der Weg ins Design, der freiwillige Zwang, die Kunst in die Serie zu überführen. Doch innerhalb kapitalistischer Massenproduktion mit der Politisierung in Serie zu gehen, bedeutete, sie deren falschem Zweck, der Produktion um der Produktion Willen, zu unterstellen. Als ästhetische Entscheidung über die Produktion bekam sie die Rolle der Kontemplation im Kontext der Alltagsgegenstände; Bauhaus-Design wurde zur beliebten Trademark. Hier finde ich Rogers Hinweis auf die fordistische Allgemeinheit der Ästhetisierung wichtig. Die Politisierung der Massenkultur hatte Objekte und Dokumente einer greifbaren Revolution produziert, die zum Vorspann im Leerlauf, zu Artfakten, wurden. In ihrer Wiederbelebung in den 60/70ern stehen sich unterschiedliche Gesichter der Affirmation ausgebildeter Kulturindustrie gegenüber. Die Konzeptkunst (S. LeWitt, J. Kosuth) versuchte die Warenförmigkeit der Kunst zu unterlaufen, indem sie ihre Objekthaftigkeit umgingen und sich auf die Rezeption konzentrierten. Sie erzeugten einen Professionalisierungsschub des Kunstverkaufes, denn ihre Rezeptionskonzentration richtete sich an ein an sich unsolidarisches Subjekt, verlief ins Leere; erzeugte neue Warenformen. Pop art und Yippies versuchten die Objekthaftigkeit umzunutzen: auch sie taten sie den Schritt ins Design, in die Werbung (A. Warhol, A. Hoffmann). Letztere um »Werbung für die Revolution zu machen«, erstere um die Ästhetisierung als Reduktion der Produktion auf Oberflächen voranzutreiben. Das revolutionäre wie das konterrevolutionäre Anliegen endeten im Lebensstil. Sie setzen fort, was mit dem Scheitern der politischen und künstlerischen Avantgarden begonnen hatte – eine kunstinterne Revolutionierung im Übergang zur Ästhetisierung. Eine Entkunstung der Kunst zu Gunsten einer Verkunstung der Welt. Gerade weil politische und künstlerische Bewegung in der Gegenwart nur ornamental verbunden sind, muss die Politisierung von einer produktivistischen Idee ausgehen, da eine Konzentration auf die Rezeption das aktivistische Subjekt bereits voraussetzt, das sie erzeugen will. In diesem Sinne ist Benjamins Gegenübersetzung aktuell zu verstehen: als Frage nach den künstlerischen Potenzialen der Produktionsmittel, die nicht aus der Kunst die Revolution fordert, sondern aus der Forderung der Revolution die Frage, »ob nicht durch die Erfindung der Fotografie der Gesamtcharakter der Kunst sich verändert habe«.
RB: Diese mögliche Veränderung des Gesamtcharakters der Kunst ist meines Erachtens aktuell gerade in Hinblick auf ihren historischen Bezug: Mit Blick auf die kulturellen Techniken des späten 19. Jahrhunderts (Fotografie, Film) und angesichts der Entwicklung der ästhetischen Moderne entfaltet sich spätestens in den dreißiger Jahren, was Adorno in der damaligen Korrespondenz mit Benjamin als »Liquidation der Kunst« bezeichnete. Das bedeutet dann für eine Politisierung der Kunst nach dem Scheitern der klassischen Avantgarden und im Zuge der Entfaltung der spätkapitalistischen Popkultur überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, dass diese Veränderung des Gesamtcharakters der Kunst nicht storniert gemacht werden kann. So verstehe ich es, wenn Benjamin eine Ästhetisierung der Politik diagnostiziert, der der Kommunismus mit einer Politisierung der Kunst antwortet. Dass Benjamin hier von einer »Antwort« und nicht etwa von einem »Kampf« spricht, ist entscheidend: Die Ästhetisierung der Politik kann nicht durch eine Politisierung der Kunst rückgängig gemacht werden; vielmehr geht es um die revolutionäre Veränderung, nämlich genau um die Frage, wie die Masse doch noch ihr Recht auf Veränderung der Eigentumsverhältnisse bekommt und nicht im bloßen Ausdruck ihrer selbst – im Spektakel – stecken bleibt. Wie Esther halte auch ich Benjamins Konzeption des Ausdrucks, der im Kontext von damaliger Kulturtheorie, Psychoanalyse und Expressionismus zu verstehen ist, hier für zentral. Ich möchte schließlich hinzufügen, dass es Benjamin, wenn er von Politik oder Politisierung spricht, nicht um eine Demokratisierung geht, sondern um die Möglichkeit der Emanzipation; diesbezüglich wird Benjamin häufig missverstanden – und die künstlerischen Bewegungen, die sich heute auf eine Politisierung der Kunst berufen und damit »mehr Demokratie« meinen, setzen mit eben demokratischen Mitteln fort, dass dem Menschen das Recht auf Veränderung verwehrt bleibt. Sie betreiben genau die Repräsentationspolitik, die sie gleichzeitig zu kritisieren meinen; wieder bekommen die – diesmal gänzlich verachteten – Massen nur einen Ausdruck.
EL: Es ist sicherlich richtig, dass sich die Kunst nicht von der Situation erholen kann, – die Kunst kann sich nicht wieder auf »das Ästhetische« zurückziehen. Kunstbewegungen sind mit dem Geschäft der Politik in verschiedener Weise verschmolzen. Politik wurde eine Kunst der bloßen Auslage. Es sollte überdacht werden, inwiefern Benjamins Schluss-Statement vom Kunstwerkaufsatz eine neue aktuelle Gültigkeit erhalten hat. Es ist einfach, heute allenthalben eine Ästhetisierung der Politik zu beobachten – in dieser Hinsicht hat Benjamins These einiges mit den Situationisten gemeinsam. Wir leben in einer Welt des politischen Medien-Spektakels, das Passivität und reflexartige Reaktionen erzwingt. Politik ist eine Show, der wir fasziniert zusehen und deren angebotenen »Positionen« einfach Unterscheidungen innerhalb des eigentlich Identischen sind. Benjamins Satz verweist darauf, dass hinter der Ästhetisierung des politischen Systems eine wesentlich grundsätzlichere Ästhetisierung – oder Entfremdung – steckt: die Ästhetisierung der menschlichen Praxis. Dies läuft auf eine Entfremdung vom Gattungswesen Mensch hinaus, bis dahin, dass wir unsere Selbstzerstörung dulden und sogar genießen. Benjamin diskutiert die Frage der Politisierung der Kunst im Kontext dieser Vernichtung des Menschen durch den Menschen. Der Krieg ist zum endgültigen Kunstereignis geworden, denn er befriedigt die neuen Bedürfnisse des menschlichen Sinnesapparates, welcher technologisch neu gestaltet wurde. Das ist die Vollendung von L’art pour l’art, oder des Ästhetizismus: alles ist zu einem Fraß für die Kunst geworden. Politik – im Sinne von rationalen und angemessenen Diskussionen über den Einsatz von Technologien – ist zugunsten ihrer verdinglichten Form angeschafft worden. Richtige Politik ist Selbst-Handeln (self-activity). Oberflächlich mag es so erscheinen, als ob die Politisierung der Kunst sich weitestgehend innerhalb der »Kunst Gemeinde« etabliert hat; Ausstellungen richten gelegentlich ihre Aufmerksamkeit auf »politische« Fragen der Armut, Gender, Ethnizität, Globalisierung oder Krieg. Aber das ist nicht der Sieg der Benjaminschen Idee einer Politisierung der Kunst, sondern es handelt sich vielmehr um ein weiteres Symptom der Ästhetisierung der Politik. Denn was in Benjamins Sinne einer Politisierung der Kunst produziert wäre, ist gewiss nicht die Kunst, an die wir in den Galerien gewöhnt wurden – eine politisch korrekte Kunst, die sich größtenteils selbst und dem Kunstbetrieb genügt. Vielmehr meint die Politisierung der Kunst den vollständigen Bruch mit dem alten System; Kunst wird politisch als Praxis der Kritik.
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