Antisemitismus & Bildung. Thesen
Adorno spricht 1966 über Erziehung nach Auschwitz, nicht über Bildung nach Auschwitz.
Das mag zeithistorische und/oder »diskursgeschichtliche« Gründe haben: »Bildung« war zu der Zeit noch nicht so behavioristisch überformt und verallgemeinert wie heute, sondern das elitäre »Produkt« von Bildungsinstitutionen und nicht der allgemein individuelle »Prozess« von Welt- und Selbstaneignung; wenn Leute wie Picht von Bildungskatastrophe gesprochen haben, dann ging es um (nationalen wie internationalen) Wettbewerb (und nicht um Aufklärung und Antifaschismus). Etc.
Ein anderer Grund ist zu diskutieren: Antisemitismus ist mit Bildung nicht beizukommen; anders gesagt: die Idee der Bildung (von Humboldt bis Kokemohr o.ä.) ist für die Bekämpfung des Antisemitismus völlig unbrauchbar. Keine noch so »gute« Bildung (was immer das auch sein mag) kann Antisemitismus verhindern.
Das hat gesellschaftliche Gründe, die u.a. in dem, was als »Bildung« (in seiner ganzen politischen, institutionellen, akademischen, [fach]pädagogischen Breite) verhandelt wird, ihren Ausdruck finden (vgl. Benjamin: »Ausdruckszusammenhang«).
Adorno stellt das ein paar Jahre vorher dar mit seiner ›Theorie der Halbbildung‹ (1959). (Und dass der Begriff »Halbbildung« sich zuerst in den ›Elementen des Antisemitismus‹ findet, kommt nicht von ungefähr.)
Bildung mag das Ideal sein – Habbildung ist die gesellschaftliche Wirklichkeit. Daran sind die (auch pädagogischen) Eingriffe gegen Antisemitismus zu messen. Auch in den oder als Institutionen. Zum Beispiel Schule (ebenso wie Fernsehen, Kino, Internet etc.).
Erziehung nach Auschwitz (als Pädagogik gegen Antisemitismus, als Abschaffung des Antisemitismus) findet in der Schule nicht statt – und kann in der Schule nicht stattfinden (und davon handelt Adornos Vortrag von 1966).
Schule dient der Anpassung; sie verhindert – beim Lehrpersonal und in der Ausbildung des Lehrpersonals (und das können nette Leute sein, die sich gegen jede Form von Antisemitismus sofort stark machen würden) – strukturell das, was Adorno »Erziehung zum Widerstand« nannte; verhindert wird nämlich jedes Geschichtsbewusstsein, das eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Gegenwart wäre in Hinblick auf die Aneignung der eigenen Geschichte (siehe dazu Helmut Dahmer, aber auch Rosa Fava).
Die Erziehung nach Auschwitz, um die es heute immer noch und immer wieder geht und gehen muss, ist zuallererst die Problematisierung einer Erziehung nach Auschwitz (und auch Aktualisierung der Frage, ob doch auch Bildung nach Auschwitz nötig und möglich ist).
In beängstigender Kontinuität bleibt der Antisemitismus in seinen abscheulichen wie banalen Formen derselbe: Der offene, von Hass getragene Antisemitismus, der unverhohlen angreift bei jeder Gelegenheit. Aber auch – und das macht doch die Frage nach Antisemitismus & Bildung so kompliziert wiederum – das diffuse Desinteresse, die Gleichgültigkeit gegenüber dem Antisemitismus, die nicht antisemitisch ist, ihm aber doch – gesellschaftlich – den Weg bereitet. Und das ist ein Problem der Bildung durchaus.
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