Die Zeiten, in denen man durch Film und Fernsehen etwas lernen kann, sind endgültig vorbei

Die Zeiten, in denen man durch Film und Fernsehen etwas lernen kann, sind endgültig vorbei. Überhaupt ist die Annahme einer pädagogischen oder bildungsmäßigen Medienspezifität eine Ideologie. Auch die Lektüre eines Buches macht an und für sich allein noch nicht klüger. Trotzdem trägt das, was seit einigen Jahrzehnten im erziehungswissenschaftlichen Jargon operationalisiert »Lese-Kompetenz« genannt wird, durchaus zum je individuellen »Lernen« bei: Wer lesen kann, hat in dieser Welt einen Vorteil. Fraglich allerdings, ob dieser Vorteil bildungsrelevant ist, nämlich relevant in Hinblick auf Selbstermächtigung und Emanzipation des Subjekts (zu erinnern ist in diesem Zusammenhang Ivan Illichs altes Interventionsplädoyer für die Entschulung der Gesellschaft; er kritisierte etwa die gut gemeinten Alphabetisierungskampagnen in Latein- und Mittelamerika, sie würden traditionelle Strategien der Selbst- und Weltaneignung verdrängen und damit stabile Sozialbindungen zerstören …). Film und Fernsehen haben die Menschen unterm Strich weder dümmer noch klüger gemacht; und sicher gibt es im Kino und TV viel Dummes, ebenso auch Gutes (und manche sagen hier: viel Gutes).

Indes: Aus einem Buch für sich Momente der Selbstbildung zu gewinnen, setzt Lesen (»Lese-Kompetenz«) nicht zwingend voraus. Edward P. Thompson hat in seiner Großstudie ›The Making of the English Working Class‹ (1963) darauf hingewiesen, dass es im neunzehnten Jahrhundert in Proletarierhaushalten – nebenbei: das sind Haushalte, wo mehrere Familien in kleinen Wohnungen zusammen hausen – durchaus üblich war, etwa Karl Marx’ ›Das Kapital‹ in der Küche im Regal stehen zu haben. Lesen konnten die wenigstens, wer es konnte, las in den wenigen Stunden der Freizeit den anderen vor; was drin steht in diesem Buch, wusste man mithin aus der Fabrik, erfuhr man tagtäglich am eigenen Leib. Allein zu ahnen, dass hier aber erklärt wird, warum das Leben in Manchester, Liverpool, London etc. so ist wie es ist, war initial für die Lektüre des Buches, auch wenn man es selber gar nicht lesen konnte.

So auch beim Film, wenn auch in anderer Konstellation (die eher dem Theater, vielleicht dem Brechtschen Lehrstück vergleichbar ist): Viele Leute sehen einen Film, verstehen vielleicht nicht alle Bilder, Handlungsverbindungen, »Narrative« etc., unterhalten sich aber darüber – im Kino, später in der Kneipe, bei der Versammlung, am Arbeitsplatz. An solche Konstellationen knüpfen sich auch die avantgardistischen, subversiven oder radikalpädagogischen Entwürfe eines anderen Films und anderen Fernsehens, wie es in den sechziger (Film) und siebziger (Fernsehen) Jahren sich herausbildete, dann aber in den Neunzehnhundertachtzigern sukzessive wieder verschwand (nivelliert, integriert, zunichte gemacht wurde); Berührungen gibt es hier mit den allgemeinen und institutionell-besonderen Umbrüchen in der Pädagogik, nicht zuletzt durch eine curriculare Gestaltung des Unterrichts – man liest Goethes ›Faust‹ gerade deshalb in der Deutschstunde, weil man von den Mittelschichtskindern, die hier im Waschbetonbau brav in neu arrangierten Kleingruppen sitzen und Matrizen-Grafiken bunt ausmalen, nicht erwarten kann, dass sie sich das, wofür Goethe und ›Faust‹ bildungsmäßig stehen, von alleine aneignen. Man braucht das Gespräch, die lebendige Diskussion, geleitet vom 68er-Referendar; wer etwas besonders Wichtiges zu sagen hat, darf sich schnipsend mit beiden Armen melden … Abgesehen von den Lehrfilmen, die im Schulunterreicht verwendet werden; die USA und Großbritannien hatten hier bereits in den späten vierziger und dann fünfziger Jahren eine Vorreiterrolle, heute gut dokumentiert einsehbar beim Internetportal archive.org. Legendär die entsprechende Szene aus ›Blackboard Jungle‹, USA 1955, wo zur Beruhigung der delinquenten Jungs ein Zeichentrickmärchenfilm gezeigt wird, dessen Szenen exemplarisch zur moralischen Unterweisung dienen (während ein anderer Lehrer mit seiner Jazzplattensammlung scheitert: sie wird von den Jungs zerstört; Jazz an sich ist nicht besser als ›Rock around the Clock‹, »it just smells funny«), ist es mit Film und Fernsehen in jetzt neu erschlossenen »Bildungsfeldern« ähnlich: Es gibt zu Film und Fernsehen einen Diskurs, das Programm wird erläutert, kommentiert, bewertet – Filmmagazine, Feuilleton, auch die schnöde Rundfunkzeitschrift sowie die Romane, die Filmen vorausgehen1) oder sie nach- und weitererzählen, schließlich Illustrierte2) oder »Fanutensilien«3) (Sammelalben)4) sind dafür wesentliche Bestandteile: Man kann über Godard reden, aber auch über James Bond, über Peter Frankenfeld und Hans Rosenthal, aber auch über Rainer Werner Fassbinders ›Welt am Draht‹.

Hier angeeignetes Wissen stabilisiert das relativ instabile »Selbst«, das durch Familie, Kindergarten, Schule, Lehre und Universität konstituiert wurde, erfüllt (wie gesagt: ab den späten 1960ern, frühen 1970ern) eine Kitt-Funktion, wie sie früher die Familie innehatte, viel besser (nachhaltiger, »haltbarer«). Die Stabilisierung erfolgt auch dadurch, dass hier, im Film und im Fernsehen (wie zuvor und immer noch im Roman, bei Thomas Mann ebenso wie bei Karl May) Widersprüche, Ungereimtheiten, »Doofes«, Schicksal etc. offener, freimütiger, »brisanter« (im Sinne von »wichtig für mich«) verhandelt werden kann. (Wenn ich in der Schule sage, Goethes ›Faust‹ verstehe ich nicht, deshalb langweilt mich das Buch und Goethe »nervt«, dann bekomme ich wahrscheinlich eine schlechte Note; im anderen Kontext ist ein nicht verstandener Glauber Rocha-Film oder langweiliges, nerviges Fernsehen durchaus interessant und kann Anlass für ein gutes Gespräch oder einen lustigen Abend sein.)

Irgendwann (oder parallel) haben Film- und Fernsehpädagogen dann nicht nur überlegt, welche Filme und welches Fernsehen pädagogisch gut ist (das Prädikat »pädagogisch wertvoll«; freilich taugt das für Satire und wird dafür ja auch immer wieder verwendet …), sondern auch gefragt, was eigentlich mit dem Publikum so los ist, was bei Zuschauerinnen und Zuschauern passiert, und zwar gerade, wenn diese sich nicht im Kino oder Fernsehen mit dem »pädagogisch wertvollen« Programm auseinandersetzen, sondern das pädagogisch Wertlose, Abqualifizierte, den Schund konsumieren (was der klassischen Deutung entspricht: hier wird konsumiert, nicht rezipiert). Stuart Halls so genanntes Encoding/Decoding-Modell ist dafür legendär; im Prinzip finden sich ähnliche Forschungen schon bei Paul Lazarsfeld und – inklusive empirischer Studien dazu – bei Theodor W. Adorno.

In den neunziger Jahren schlägt das aber wieder zurück, im Zuge der akademischen Erschließung der neuen Medien (wie überhaupt der Medien) werden »Lesarten«, »Lektüren« des Films und des Fernsehens (und sowieso der Kultur insgesamt) der »proletarischen Öffentlichkeit« nun in die allgemeinen Diskurse integriert, indem sie als quasi individuelle Didaktiken in die Universitätsseminare und ins Feuilleton Eingang finden (die große Zeit der so genannten Popliteratur).

Im Prinzip, wird jetzt behauptet, kann man überall etwas lernen, ob man sich nun die ›Simpsons‹ ansieht, die ›Sopranos‹, Lost‹, Filme mit George Clooney oder Filme von Sofia Coppola. Was hier allerdings mit »Lernen« gemeint ist, ist dürftig. – Man lernt nichts, was über das bloße Erleben, die gute Unterhaltung, die auch für ein bisschen Selbstsicherheit sorgt, den klugen Humor oder den dummen Scherz, über den man gut Lachen kann und soll, hinausgeht oder wenigstens auch nur hinausweist; hier gibt es keine Transzendenz mehr im Material (ob ich nun selbst vielleicht so etwas wie eine »transzendente Erfahrung« beim Kinobesuch oder TV-Abend mache, bleibt dem Film oder was ich auch immer sehe völlig äußerlich, arbiträr).

»Denken heißt überschreiten« (Ernst Bloch). Wenn Lernen etwas mit Denken zu tun hat, dann sind die Zeiten, wo man durch Film und Fernsehen etwas lernen konnte, endgültig vorüber.

  1. Die beiden berühmtesten Beispiele sind von 1939: ›Wizard of Oz‹ und ›Gone with the Wind‹ … (↑)
  2. Siehe hierzu das ›Life‹-Magazin in den 1940er und 1950er Jahren, aber etwa auch den ›Playboy‹ … (↑)
  3. Sehr früh schon, in den 1930er Jahren, gab es Fan-Artikel und Accessoires zur Mickey Mouse … (↑)
  4. Schon in den 1950er Jahren beliebt: Sammelalben zu allen möglichen Themen – Tiere, Krieg, Schauspielerinnen und Schauspieler – zum Beispiel von Voss-Margarine. (↑)

(289)