Bildung und Politik nach der Postmoderne

Jetzt erschienen:
Carsten Bünger, Olaf Sanders und Sabrina Schenk (Hg.), ›Bildung und Politik nach dem Spätkapitalismus‹, Argument: Hamburg 2018.
Darin mein Beitrag:
›Das postmoderne Wissen nach der Postmoderne. Anmerkungen zum Widerspruch von Bildung und Herrschaft, heute‹.

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Auszug aus: ›Das postmoderne Wissen nach der Postmoderne‹, ergänzt um eine Nachbemerkung.

»Wenn Erziehung gesellschaftliche Bewusstseinsbildung sein soll, dann muss sie vor allem die politische Artikulationsfähigkeit von Primärerfahrungen der Menschen erweitern.« – Oskar Negt: »Plädoyer für einen neuen Bildungsbegriff« (1970, S. 361)

Kritische Untersuchungen der gegenwärtigen Bildungsprobleme müssen von der Erklärung eines komplexen, wenn auch nicht komplizierten Tatbestandes ausgehen: Die Debatten über »die Krise des Kapitalismus« und über »die Bildungskrise« werden völlig disparat und unabhängig von einander geführt; überdies sind diese Debatten je für sich in ihren Resultaten bisher gesellschaftlich vollkommen folgenlos geblieben – obwohl zu Themenblöcken geronnen, die seit Jahren die publizistische wie fachlich-akademische Öffentlichkeit bestimmen (so jedenfalls lässt sich das an den Bestseller-Listen ablesen, die seit einiger Zeit schon von Büchern über wahlweise Kapitalismus, Bildung, Erziehung etc., aber auch Politik allgemein und das Politische im Besonderen angeführt werden). Anders gesagt: Rezepte, die sich aus dem Begriffsfeld von Bildung, Pädagogik und Erziehung (und hinzusetzen kann man auch hier: Politik) bedienen, bieten für die aus und mit dem Kapitalismus erwachsenen Krisen keine Lösungen mehr; kurzum: es gibt keine Konzepte von Bildung, Pädagogik, Erziehung etc., die systemreformierend und systemstabilisierend den sozialen wie technologischen Anforderungen der kapitalistischen Gesellschaften genügen würden. Verschwunden ist mithin auch der Vorrat an Beiträgen einer »kritischen« Bildungstheorie und -praxis (Pädagogik, Erziehung etc.), die bisher, selbst wo sie radikal im emanzipatorischen Interesse formuliert worden sind, immer integrativ für den Kapitalismus dienstbar gemacht werden konnten; drastisch gesagt: kritische Bildungstheorie und -praxis haben gegenwärtig keine Relevanz für die allgemeinen und besonderen Probleme, die sich für das gesellschaftliche wie individuelle Leben der Menschen auf der Erde durch das allenthalben herrschende Kapitalverhältnis in einer Brutalität darstellen, die von Minute zu Minute über Tausende von Leichen geht und nach der schließlich die Existenz des Planeten selbst auf dem Spiel steht.

Dieses Ausgangslagenbild steht im Kontrast zu dem, das Oskar Negt 1970, also vor knapp fünfzig Jahren und noch im Zug der unmittelbaren Nachwehen der mit dem Jahr 1968 verbundenen Emanzipationsversuche unterschiedlichster Protestbewegungen skizziert hatte; er schrieb damals: »Ernst zu nehmende Untersuchungen der gegenwärtigen Bildungsprobleme müssen von der Erklärung eines einfachen Tatbestandes ausgehen: Überall in der Bundesrepublik rebellieren seit einigen Jahren Studenten, Schüler, Lehrer und einzelne Hochschulprofessoren gegen ein Bildungssystem, das offenkundig selbst den technologisch beschränkten Anforderungen einer fortgeschrittenen Industriegesellschaft nicht mehr zu genügen vermag – von einer Gesellschaft, in der die klassenbedingte Privilegienstruktur der Bildung und der Information vollständig aufgehoben ist, ganz zu schweigen. […] Diese mit mehr oder minder großen Phasenverschiebungen in fast allen spätkapitalistischen Ländern auftretende Krise [gemeint ist die Bildungskrise, Anm. rb] ist vielmehr nur das Symptom einer Gesellschaft, die durch ihre antagonistischen Widersprüche daran gehindert ist, eine von der historischen Entwicklung vorgezeichnete neue Stufe der gesellschaftlichen Elementarbildung, die sich in der schwerfälligen Veränderung der Berufsstruktur ebenso ankündigt wie in der neuen Vergesellschaftungsqualität der auf erweiterter Stufenleiter reproduzierten Arbeitskraft, in geplanter Weise und auf Massenbasis wirksam zu institutionalisieren.« (Oskar Negt 1970, S. 357)

Fünfzig Jahre später stellt sich dies nun so dar: Die Krise ist in den spätkapitalistischen Ländern (und welche Nation ist eigentlich nach 1989, abgesehen von Nordkorea, nicht spätkapitalistisch?) mittlerweile soweit als »Normalzustand« manifest, dass nicht mehr von latenten Phasen gesprochen werden kann. – Spätestens mit der Einführung des Home-Computers bzw. Personal-Computers in den gewöhnlichen und diesen schließlich bestimmenden Lebensalltag (einschließlich dann Internet und Mobilnetz) sind die technologischen Anforderungen mit den sozialen wie individuellen Konstitutionsbedingungen unmittelbar verschränkt, so dass eine (digitale) Informationslogik sämtliche Prozesse von Lernen, Erziehung und Bildung überformt und durchsetzt hat. – Das allgemeine wie besondere Bewusstsein über Notwendigkeit und Möglichkeit einer neuen Stufe der gesellschaftlichen Elementarbildung ist erodiert: Allgemein insofern, als das derzeit agierende (links-) politische Bewegungen nicht mehr auf solche Forderungen, wie etwa Negt sie 1970 gestellt hat, rekurrieren; erodiert im besonderen Bewusstsein mithin, weil jede Erfahrung von Entfremdung selbst in ihren Restspuren oder privatistischen Verkehrungen als Defizit der eigenen Leistung psychologisiert oder pädagogisiert und damit behavioristisch wegtherapiert wird. Es gibt also für irgendwie kritische Bildungsinterventionen sei es theoretisch, sei es praktisch überhaupt keinen akuten, aktuellen und um Aktualisierung bemühten politischen Bedarf. Wo doch noch für mögliche Problemlösungen kritische Konzepte von Bildung (Erziehung, Pädagogik und auch Politik) diskutiert werden, passiert das – abgesehen von realitätsfernen und gesellschaftsisolierten Abseitsdebatten im akademischen Milieu – bloß, bestenfalls, als verkappte Wiederaufnahme humanistischer Bildungsideologie. Die Forderung nach Bildung als ein Sich-Bilden in kollektiven Lernprozessen zu übersetzen, greift nicht, weil allein ein gesellschaftliches Subjekt fehlt, das solche kollektiven Lernprozesse auch im Sinne eines erkenntnisleitenden, kritischen und emanzipatorischen Interesses – mit »soziologischer und politischer Phantasie« (vgl. Negt 1970, S. 363) – überhaupt umzusetzen gewillt sein könnte.

Die politische Bewegungen, die heute hier und da für eine bessere Welt streiten, haben die Worte »Erziehung«, »Pädagogik«, auch »Lernen« fast vollständig aus ihrem politischen Vokabular gestrichen; übrig geblieben ist das hehre und hohe Wort »Bildung«, ein Schlagwort, das zumeist in Parolen wie »Bildung ist keine Ware!« oder »Bildung für alle!« verwendet wird – nichtssagend, bedeutungslos und akademistisch verstockt. Eine dezidiert und emphatisch kritische Bildungstheorie ist damit so wenig machbar wie eine engagierte kritische Bildungspraxis; allein: es bleibt völlig unaufgeklärt, was kritisch denn überhaupt heißen soll oder wenigstens heißen müsste. Der Rückfall in Bildungsideologie lässt auch kritische Bildungstheorie und -praxis zur Ideologie gerinnen; solche Ideologie markiert als notwendig falsches Bewusstsein indes paradox, dass das falsche Bewusstsein sich derart vervielfältigt hat, dass das Notwendige daran sich in Beliebigkeiten auflöst, und mithin die Aufklärung über das gesellschaftliche wie individuelle Unbewusste, für die auch kritische Bildungstheorie und -praxis einmal einstand, sich ebenso dialektisch ins Gegenteil verkehrt – in Ideologie. Und das kennzeichnet den Status von Bildung (und Politik) nach der Postmoderne, also nach dem Spätkapitalismus, der dann immer noch ein Kapitalismus ist, der Bildung ihrem unbedingten humanistischen Ideal nach unmöglich macht.

Nachbemerkung, Notabene, Exkurs mit offenem Ausgang

»Menschen als Spezies stehen zwar seit Jahrzehntausenden am Ende ihrer Entwicklung; Menschheit als Spezies aber steht an deren Anfang.« – Walter Benjamin: »Zum Planetarium« (Benjamin 1928, S. 148.)
»Es wird darauf ankommen, die gegenwärtige Möglichkeit zu erfassen, sie einer vermutbaren Tendenz zu verbinden. Bildung ist der große Versuch mit dem Menschen, Versuch, den Menschen zum Menschen zu begaben; er muss nicht gelingen. Es gibt keine sichere Bestimmung der Zukunft; Zukunft, die bestimmbar erscheint, ist Ausdruck einer naturwissenschaftlichen Determination, mit der sich der Mensch seines eigenen Selbst beraubt. Die Geschichte des Menschen kann mit seiner eigenen Zerstörung enden, der physischen oder der psychischen Verstümmelung; seine Unfestlegbarkeit macht seine Stellung aus.« – Heinz-Joachim Heydorn: »Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft« (1970, S. 311)
»Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus, er ist die Wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung.« – Karl Marx: »[Ökonomisch-philosophische Manuskripte]« (1844, S. 536)
»Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.« – Ernst Bloch: »Spuren« (1930, S. 1; vgl. Bloch 1963, S. 15)

So ideologisch verkehrt das Ideal, so unabgegolten die Idee. Das gilt auch für Bildung, gerade wo sie nicht nur um Emanzipatorisches ergänzt wird, sondern wo sie als emanzipatorisch formuliert wird. Die Idee der Bildung derart in materialistische Theorie und schließlich materialistische Praxis zu übersetzen, bedeutet Konkretion im Einfachen: Bildung ist ein soziales Verhältnis; und: Bildung ist ein soziales Verhalten (vgl. Behrens 2018). Sofern der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist und nur als gesellschaftliches Wesen Gesellschaft und sich selbst herstellen und vorstellen, also machen und erkennen kann, erweitert sich die humanistische Idee der Bildung zur allgemeinen Formung und Formierung des Menschen im Bewusstsein (oder besser, hegelsch: Selbstbewusstsein), dass diese Erweiterung nur kollektiv bzw. in kollektiver Assoziation sich darstellt: in der Praxis, als »revolutionäre« oder »›praktisch-kritische‹ Tätigkeit« (Marx 1845, S. 5). Solche Praxis ist in Bezug auf die Idee, den Idealismus aufhebend, Geschichte, und zwar die vom Menschen menschlich gemachte und somit ihn auch hervorbringende Geschichte. Das heißt: Wenn auch Bildung als humanistisches Ideal historisch versagt hat, bleibt sie dennoch als einfache, ja einfachste Idee des Humanismus zu verwirklichen, und das ist: die bisher nicht abgegoltene Geschichte eines realen Humanismus. – Das ist jedoch theoretisch nicht einlösbar: Dass ein sich bildender Mensch überhaupt erst im Prozess des Sich-Bildens zum Mensch wird. Theoretisch ist das deshalb nicht einlösbar, weil es nicht in der Idee des Humanismus begriffen werden kann, sofern und weil letztendlich Anthropologie und Utopie zwar konkret, aber dennoch nur negativ fassbar sind. Damit ist der reale Humanismus eben auch unabgegolten in seiner geschichtlichen Offenheit.

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»Es handelt sich jedenfalls nicht darum, eine ›reine‹ Alternative zum System vorzuschlagen: Wir alle wissen in diesem zu Ende gehenden siebziger Jahren, dass sie ihm ähnlich sein wird«, notierte Jean-François Lyotard im Schlussabschnitt von »Das postmoderne Wissen« (1979, S. 191). Das deckt sich mit der konservativ-reaktionären Parole Margaret Thatchers: »There is no alternative!« – Eine progressive Kultur konnte das nur in der verzweifelten und gleichwohl zynischen Brechung wiederholen: »No Future!« hieß das im Punk bei den Sex Pistols. Was Lyotard im Schatten der soziologischen Postindustrialisierungsthese gesamtgesellschaftlich als Ende der Großen Erzählungen fasste – nämlich letztlich die politische Suspendierung der Emanzipation –, wurde in solcher Kultur als Antikultur, in solcher Kunst als Antikunst, eben im Punk als »Antipop« (Büsser 1998) zur Kontur auch fürs Subjekt, also für jenes Individuum des damals gefeierten Individualismus: »You are fucked up!«, beschimpfte Johnny Rotten von den Sex Pistols auf der Bühne das Publikum; und einer dachte sich, »Yes, I am fucked up!« – und gründete die Band Joy Devision. Das war in Manchester Ende der 1970er Jahre (vgl. Dagmar Brunow 2017). Davon handelt Mark Fishers biografischer Bericht »Gespenster meines Lebens« (2015), in dem er über »Depression, Hauntology und die verlorene Zukunft« schreibt: »Ich möchte in diesem Buch die Behauptung untermauern, dass die Kultur des 21. Jahrhunderts durch einen die Zeit suspendierenden Stillstand und eine Unbeweglichkeit gekennzeichnet ist. […] Das Durcheinandergeraten der Zeit, das Ineinanderfließen verschiedener Zeiten ist keiner Erwähnung mehr wert; es hat sich so verallgemeinert, dass wir es nicht einmal mehr bemerken.« (Fisher 2015, S. 15) Und: »Joy Division scheinen wichtiger denn je, ist es ihnen doch gelungen, den depressiven Geist unserer Zeit einzufangen. Hören wir sie heute. stellt sich unausweichlich der Eindruck ein, die Gruppe habe unsere Gegenwart – ihre Zukunft – katatonisch heraufbeschworen. Vom ersten Augenblick an ist ihr Schaffen erfüllt von tiefen Vorahnungen, dem Gefühl einer versperrten Zukunft, der Auflösung aller Gewissheiten – so, als liege vor ihnen nur wachsende Düsternis. Es ist inzwischen hinreichend deutlich, dass die Jahre 1979/80, mit denen Joy Division immer identifiziert sein werden, einen ganz entscheidenden Moment markieren: den Punkt nämlich, als die Zeit einer ganzen (sozialstaatlich, fordistisch, industriell geprägten) Welt mit einem Mal ablief, während die Konturen einer neuen neoliberalen und konsumistischen, informatisierten) Welt sich abzeichneten. Gewiss, das Urteil ist retrospektiv, selten wird ein Bruch im Augenblick seines Auftretens auch wirklich wahrgenommen. Und doch üben jene Siebziger eine besondere Faszination aus, heute, da diese neue Welt uns umschließt – eine Welt, die Gilles Deleuze ,Kontrollgesellschaft‘ nennt und dabei übrigens einen Ausdruck verwendet, der wiederum mit Joy Division in Zusammenhang gebracht werden sollte.« (Fisher 2015, S. 71)

Was bedeutet das für Bildung und Politik? Fisher, der die Zeit um 1980 – wie ich – den Wandel von Kindheit zur Jugend erlebte, hat recht, wenn er auf das verweist, was Ernst Bloch einmal »Dunkel des gelebten Augenblicks« nannte, indes gerade in Hinblick auf diese Zeit der Transformation, eben die End-70er/ Anfang-80er, mit – zumindest ideologisch – postmoderner Signatur; denn noch standen den depressiven Tendenzen manische, sich aufregende und aufgeregte Bewegungen politisch entgegen, kam es im langen Nachhall von 68 zu Konfrontationen wie Bündnissen von eben den 68ern (jetzt im langen Marsch durch die Institutionen, wenn nicht mit Berufsverbot belegt, etwa als Lehrerinnen und Lehrer) und Jugendlichen, die in fast hysterischer Euphorie das Neue suchten, auch in Bezug auf Bildung, Selbstbildung, politischer Identität und Beruf (erinnert sei an die damalige Formierung der Autonomen, aber auch an so disparate, sozialisations- und bildungsmäßig jedoch wichtigen »Medienereignissen« wie »Dallas«, »Holocaust«, »Star Wars« und MTV). Ein Buchtitel wie »Schocker« trifft das ja ganz gut; Diederich Diederichsen schrieb damals über die »semiotische Katastrophe« (1983, S. 166 ff.). Das war zugleich die Zeit der großen Schülerinnen- und Schüler-Demos (»Gegen Rotstift-Politik!«). Auf dem Gymnasium gab es Gemeinschaftskunde als Fach. Mein sehr geschätzter Lehrer Uwe Heydorn sagte, nachdem wir uns im Unterricht über Kommunismus versus Anarchismus stritten, und den Streit dann auf dem Pausenhof über Musik – er: Bob Dylan, ich: Crass – fortsetzten: »Die einzige Band, die man heute noch hören kann, muss New Order heißen.« Nachdem Joy Devision-Sänger Ian Curtis sich 1980 das Leben nahm, gründete sich als Nachfolgeprojekt New Order.

»There is no alternative!« – Die neue Ordnung, sie ist geblieben. Mark Fisher zitiert Marshall Berman:1) »Modern zu sein bedeutet, unter Bedingungen zu leben, die uns Abenteuer, Möglichkeiten, Vergnügen, Wachstum und die Veränderung unserer selbst und der Welt versprechen – und zugleich drohen, alles, was wir haben, alles, was wir kennen, alles, was wir sind, zu zerstören.« (Berman 1988, S. 15, nach: Fisher 2015, S. 73) Das wird, damals dann als postmodern deklariert, zur neuen Signatur auch der Bildung.

Befunde wie der von Berman haben damals nicht nur die Postmoderne provoziert (im doppelten Sinne). Zu erinnern ist – auch wieder in kritisch-theoretischer Absicht von Bildung – an die humanistische (um nicht zu sagen: marxistische) Futurologie in ihrer zweiten Phase: »Wenn man von einer zweiten Phase der Futurologie sprechen will, so wohl vor allem als Folge einer weitgehenden Ernüchterung. […] Der Rüstungswettlauf konnte ebenso wenig gestoppt werden wie das Elend in der Dritten Welt. Das Anwachsen der modernsten Technik und Produktion scheint nun aber auch die Umwelt gerade der höchstindustriellen Gesellschaften immer mehr zu bedrohen. […] Überspitzt formuliert kann man also sagen, dass weder der Mensch noch die Institutionen von heute an die 4 bis 7 Milliarden Menschen von morgen, an die ABC-Waffen, an die Automation und Weltraumfahrt, an eine stets wachsende Luxusproduktion angepasst sind. Dennoch machen wir alle im alten Trott weiter – in West und Ost, Nord und Süd.« (Ossip K. Flechtheim 1973, S. 17 ff.)

Auch wenn behauptet wird und sich womöglich im allgemeinen Bewusstsein längst festgesetzt hat, dass es keine Alternative zum Kapitalismus gibt und insofern auch keine Zukunft (außer der, die bloß die – technologische, auch sozialtechnologische – Erweiterung der Gegenwart darstellt), drängt sich ja dennoch oder sogar gerade deswegen die Zukunft als Problem auf, wonach es eben darum gehen muss, Zukunft herzustellen – als radikale Veränderung der bestehenden sozialen Verhältnisse, um das Leben des Menschen möglich und das Überleben der Menschheit wirklich zu machen. Dafür braucht es ein Subjekt, und für ein Subjekt steht wiederum auch die Frage der Bildung zur Diskussion. Rolf Schwendter verstand im Kontext einer Futurologie in der zweiten Phase explizit »Zukunft als pädagogische Herausforderung« und formulierte dazu 14 Thesen, wovon hier die achte vollständig veranschaulichungshalber zitiert sei:

»Grob gesprochen, ergeben sich für ›Zukunft als pädagogische Herausforderung‹ folgende Aufgaben:

1) Die Analyse der bestehenden objektiven und subjektiven gesellschaftlichen Verhältnisse, einschließlich der widerspruchsvollen Extrapolation bestehender Trends.

2) Die Analyse und ›Kreation‹ möglicher Zukünfte.

3) Neue Formen der Informationsvermittlung der Wissensorganisation, und der Organisation der Meinungsbildung.

4) Die Veränderung der Individuen, um diese instandzusetzen, mögliche Zukünfte zu gestalten, zu propagieren und durchzusetzen.

5) Strategien zur Durchsetzung neuer gesellschaftlicher Verhältnisse gegen die Interessen zugunsten der bestehenden Verhältnisse zu entwickeln.« (Schwendter 1973, S. 116)

Im Anschluss an Schwendter fordert Robert Jungk »die Entwicklung sozialer Phantasie als Aufgabe der Zukunftsforschung«; seine bildungsrelevanten Implikationen hat das freilich nicht nur durch den ähnlichen Begriff »soziologischer Phantasie«, den Oskar Negt für seine kritische Theorie »exemplarischen Lernens« stark machte (vgl. Negt 1970; Negt 1971). Jungk plädiert für ein radikales, nämlich am Menschen ansetzendes Bildungsverständnis: »Erst wenn das Kind weniger zur Imitation, aber umso mehr zur Imagination erzogen wird, erst wenn nicht der ›Gebildete‹, sondern der ›Bildner‹ als Ergebnis des Lehr- und Lernvorgangs angestrebt wird, lässt sich hoffen, dass aus den passiven Kreaturen, welche heute in der Mehrzahl die Schulen verlassen, aktive Kreaturen werden.« (Jungk 1973, S. 125) Statt – ohnehin nur dem Profitmotiv kapitalistischer Verwertungslogik unterworfenen – technischen Erfindungen braucht es, im Sinne eben der soziologischen und politischen, kurzum: der sozialen Phantasie, »zum Beispiel ›Erfindungen für die Demokratie‹«, oder die »Erfindung neuer gesellschaftlicher Institutionen«, schließlich die »Schaffung einer kreativen Gesellschaft« (vgl. Jungk 1973, S. 126 f.). Dies ist heute drastisch zu fassen – nicht nur für den Widerspruch von Bildung und Herrschaft, durch ihn aber präzise dialektisch als Aufgabe des realen Humanismus zu bestimmen: Was gegenwärtig nun zur Disposition steht, ist überhaupt die Schaffung einer Gesellschaft. Bildung wird zur Aufklärung eines sich in der freien Assoziation verwirklichenden, praktischen Menschen; das so gebildete Selbstbewusstsein ist absolut nicht nur im Wissen, sondern auch in der von ihm erfassten, erkannten und gestalteten Welt. Das ist keine »Alternative« zum Kapitalismus, sondern die einzige Möglichkeit, menschliches Leben überhaupt wirklich zu machen.

Literatur

Roger Behrens (2018): Die Grundschule des Machbaren. Zur Kritik materialistischer Bildungstheorie und -praxis. Paderborn: Schöningh (im Erscheinen).

Walter Benjamin (1928): Einbahnstraße. In: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. IV·1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 83–148.

Marshall Berman (1988): All that is solid melts into Air. The Experience of Modernity. New York & London: Penguin Books.

Ernst Bloch (1930): Spuren. Gesamtausgabe Bd. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979.

Ernst Bloch (1963): Tübinger Einleitung in die Philosophie. [o. O. / Niddatal bei Frankfurt a. M. u. a.]: Büchergilde Gutenberg 1986.

Dagmar Brunow (2017): Postpunk Manchester als homosozialer Nostalgietummelplatz. In: testcard. Beiträge zur Popgeschichte. #25: Kritik. Mainz: Ventil, S. 112–121.

Martin Büsser (1998): Antipop. Essays und Reportagen zur Popmusik der Neunziger. Mainz: Dreieck [Ventil Verlag].

Mark Fisher (2013): Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Übersetzt von Christian Werthschulte, Peter Scheiffele und Johannes Springer. Hamburg: VSA.

Mark Fisher (2015): Gespenster meines Lebens. Depression, Hauntology und die verlorene Zukunft. Aus dem Englischen von Thomas Atzert. Berlin: Edition Tiamat.

Ossip K. Flechtheim (1973): Futurologie in der zweiten Phase? In: Dietger Pforte & Olaf Schwencke (Hg.): Ansichten einer künftigen Futurologie. Zukunftsforschung in der zweiten Phase. München: Hanser, S. 17–25.

Heinz-Joachim Heydorn (1969): Zum Verhältnis von Bildung und Politik. In: Werke Bd. 2 (Werke: Band 1–4. Bildungstheoretische und pädagogische Schriften 1949–1974, herausgegeben von Irmgard Heydorn, Hartmut Kappner, Gernot Koneffke, Edgar Weick). Ruggell / Liechtenstein: Topos 1995, S. 199–261.

Heinz-Joachim Heydorn (1970): Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft. In: Werke Bd. 3 (Werke: Band 1–4. Bildungstheoretische und pädagogische Schriften 1949–1974, herausgegeben von Irmgard Heydorn, Hartmut Kappner, Gernot Koneffke, Edgar Weick). Ruggell / Liechtenstein: Topos 1995.

Robert Jungk (1973): Die Entwicklung sozialer Phantasie als Aufgabe der Zukunftsforschung. In: Dietger Pforte & Olaf Schwencke (Hg.): Ansichten einer künftigen Futurologie. Zukunftsforschung in der zweiten Phase. München: Hanser, S. 121–135.

Jean-François Lyotard (1979): Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Aus dem Französischen von Otto Pfersmann. Wien: Passagen 2005.

Jean-François Lyotard (1987): Zeit heute. In: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit. Aus dem Französischen von Christine Pries. Wien Passagen 1989, S. 107–139.

Karl Marx (1844): [Ökonomisch-philosophische Manuskripte]. In: MEW Erg.-Bd. 1, Berlin (DDR): Dietz Verlag 1968, S. 465–588.

Karl Marx (1845): [Thesen über Feuerbach]. In: MEW Bd. 3, Berlin (DDR): Dietz Verlag 1969, S. 5–7.

Karl Marx & Friedrich Engels (1847/48): Manifest der Kommunistischen Partei. In: MEW Bd. 4, Berlin (DDR): Dietz Verlag 1972, S. 459–493.

Oskar Negt (1970): Plädoyer für einen neuen Bildungsbegriff. In: Ders.: Keine Demokratie ohne Sozialismus. Über den Zusammenhang von Politik, Geschichte und Moral. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 357–366.

Oskar Negt (1971): Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Zur Theorie und Praxis der Arbeiterbildung. Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt 1981.

Rolf Schwendter (1973): Zukunft als pädagogische Herausforderung. In: Dietger Pforte & Olaf Schwencke (Hg.): Ansichten einer künftigen Futurologie. Zukunftsforschung in der zweiten Phase. München: Hanser, S. 114–120.

  1. Marshall Berman zitiert mit seinem Titel „All that is solid melts into Air“ das kommunistische Manifest; Marx und Engels schreiben auf Deutsch: „Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“ (Marx & Engels 1847/48, S. 465) – Berman veröffentlichte 2010 eine Einführung ins kommunistische Manifest; er starb 2013. Mark Fisher nahm sich 2017 das Leben. (↑)

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