Autonomes Krisengebiet

Ob die Musikindustrie durch ihre Verluste wirklich in die Krise geraten ist, ist eine Frage. Die andere ist, ob der Verlust der Autonomie der Musik zu einer Krise der Musik selbst geführt hat.

Die Rede von einer Krise der Musikindustrie bezieht sich auf ein ganz bestimmtes Segment der Kulturwarenproduktion, über das sich die Branche in den vergangenen fünf Jahrzehnten definier­te: Es geht um Tonträger. Popmusik – die ohnehin als identisch mit Popkultur gilt – wird dabei weit­gehend synonym mit den verschiedenen Zweigen des Tonträgermarktes gesetzt.

In den Phänomenen, die gegenwärtig die Krise charakterisieren – Konkurs vieler Labels und Ver­triebe, Rückgang der Plattenverkäufe, Umsatz­einbußen durch MP3-Downloads, schlecht besuch­te Konzerte etc. –, spiegelt sich ein grundsätzlicher Umwälzungsprozess der Kultur. Nicht nur das individuelle Hörverhalten hat sich verändert, sondern »Musik« scheint ihre kulturelle Bedeutung zu verlieren. So sind die Jugendkulturen, die einmal das Musikleben bestimmt haben, fast ganz verschwunden; selbst im Bereich der nach wie vor falsch als »Klassik« bezeichneten Musik sind dereinst stabile Geschmacks­gruppen kollabiert; den »Fan« – der vor Jahrzehnten einmal als Experte des komplexen Jazz entstand – gibt es heute nur noch als Kindermob, der Castingbands hinterherkreischt.

In den öffentlich geführten Debatten um die Krise der Musikindustrie wird über die Musik selbst kaum gesprochen. Es scheint, als verändere sich nicht nur das Hörverhalten, sondern auch das »Hören« als spezifischer Umgang mit »Musik« wird sukzessive außer Kraft gesetzt. Die Rezi­pien­ten sind vollends zu Konsumenten geworden. Vom Geschmacksurteilsvermögen ist ein Reiz-Reak­tions-Schema übrig geblieben, wonach »Mu­sik« nur noch als akustisches Signal wiedererkannt wird: Klingeltöne geben hier das Prinzip vor.

Zur Disposition steht – deswegen die Anführungszeichen –, ob sich hier nicht ein Ende der Musik selbst ankündigt, eine Entmusikalisierung der Musik. Hinzu kommt, dass die Rede von der Krise der Musikindustrie sowieso in zweierlei Hinsicht fragwürdig ist.

Zum einen hat die Musikindustrie, sofern sie denn überhaupt als Branche fassbar ist, seit ihren Anfängen technische Entwicklungen vollzogen, die zum Resultat haben, dass mitunter dieselben Firmen, die sich jetzt vom Umsatzrückgang bedroht sehen, enorme Profite in genau den Bereichen zu verzeichnen haben, die für die Krise verantwortlich gemacht werden: Angesichts der Ver­kaufszahlen von Musik reproduzierender Unterhaltungselektronik (MP3-Player, Computer, CD-Rohlinge, Mobiltelefone, etc.) kann wohl kaum ernsthaft von einer Krise der Musikindustrie gesprochen werden.

Zum anderen – und das ist der für unsere Über­legungen wichtigere Aspekt – steht die Krise der Musikindustrie im merkwürdigen Kontrast zum fortlaufenden Boom des Kunstmarktes: Das alte Modell ist der Musiker Lars Ulrich, der – wie in dem schönen Metallica-Film »Some Kind of Mons­ter« zu sehen ist – für mehrere Millionen seine Basquiat-Bilder verkauft; das neue Modell ist der Maler Daniel Richter, der das Buback-Label gekauft hat, Jan Delay und die Goldenen Zitronen finanziert.

Diese Entwicklung hat ihre Ursachen im grund­sätzlichen Verhältnis von Kunst, Kunstwerk und Kunstware, das sich spätestens seit den Zeiten der Kulturindustrie in der Musik anders entfaltete als in der Bildenden Kunst. Die Schlüsselkategorie ist hier der Begriff der Autonomie.

Die Autonomie der Kunst ist Moment ihrer Eman­zipation von den Abhängigkeiten der vorbürger­lichen Gesellschaft, von Hof und Kirche. Die Idee der Autonomie der Kunst korrespondiert mit dem Entwurf eines autonomen Subjekts, das – dem Ideal der Aufklärung folgend – die empha­tische Selbstbestimmung meint; gleichzeitig wird die Kunst zunehmend zum einzigen Ort, an dem das autonome Subjekt sich überhaupt verwirklichen kann – als Künstler. Derart wird Autonomie zur Qualität einer geschlossenen Einheit des Kunstwerkes, wobei zur Autonomie der Kunst ihr Wahrheitsgehalt gehört, der auf Erkenntnis zielt. Hieraus leitet sich die gesamte »Ideologie des Ästhetischen« (Terry Eagleton) ab, die den Kunstbegriff und den Kunstbetrieb im bürgerlichen Zeitalter kennzeichnet.

Denn die Ästhetik der Autonomie ist nur möglich, wo sich ein eigenständiger Kunstmarkt herausbildet. Die »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« (Kant), die als Grundsatz der Autonomie-Ästhetik gelten kann, wird im Kunstwerk dadurch gerettet, dass der gesellschaftliche Zweck der Kunst vom Werk selbst abgespalten wird; erst wo die Kunst zur Ware wird, kann sie eine Form der Auto­nomie realisieren, die paradoxerweise darin besteht, die Unabhängigkeit vom ökonomischen Markt zu deklarieren. Damit verdoppelt sich in der Kunst der von Marx beschriebene Fetischcharakter der Ware.

Für die Musik hatte das besondere Konsequenzen, weil hier ohnehin die Frage des Originals (Was ist das Original der Musik? Die Komposi­tion oder die Interpretation? Die Partitur, die Uraufführung, die erste Aufnahme?) im Raum stand, ästhetisch, aber auch juristisch im Sinne des Urheberrechts.

Inwiefern hier einzelne Probleme nicht vom Gesamtkomplex musikalischer Produktion abgespalten werden können, kann folgende Anekdote verdeutlichen, die als Antizipation heutiger Urheberrechtsdebatten gelten kann: Der Erfinder Johann Nepomuk Mälzel konstruierte 1805 sein Panharmonicum, eine mit einer Notenwalze funk­tionierende Musikmaschine. Beethoven kom­ponierte für diesen Apparat »Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria« (op. 91). Allerdings war die Komposition mechanisch nicht realisierbar, weshalb Mälzel Beethoven zur Orchesterfassung riet, die dann im Dezember 1813 in Wien bei einem Benefizkonzert für invalide Soldaten aufgeführt wurde. Gerade weil das Konzert ein außerordentlicher Erfolg für beide war, kam es zu einem heftigen, gerichtlichen Streit über die Eigentumsrechte, der erst einige Jahre später bei­gelegt werden konnte.

Bezeichnend an diesem Beispiel ist, inwiefern die Technik als produktiver Faktor das Verhältnis von Autonomie und Markt irritiert: Der Nichtmusiker Mälzel erfindet einen Musikapparat und reklamiert das Recht an der Kunst aus ökonomischen Gründen. Das Kunstwerk tritt jetzt ins Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit ein, wie es über ein Jahrhundert später Walter Ben­jamin diagnostiziert.

Auf keine der klassischen Kunstformen hat die Massenproduktion gerade im Hinblick auf die Technik einen solch enormen Effekt gehabt wie auf die Musik; selbst die Folgen für die Literatur sind angesichts der technischen Umwälzungen, die das Musikleben in den vergangenen 200 Jahren erfahren hat, vergleichsweise spärlich. Doch die Massenproduktion hat nicht nur technische Folgen für die Musik: Schon 1851 wird in Frankreich eine Verwertungsgesellschaft als Interessenvertretung für Musikproduzenten gegründet. 1902 tritt in Deutschland das »Urheberrecht an Werken der Literatur und Tonkunst« in Kraft; 1903 wird die Anstalt für musikalische Aufführungsrechte (AFMA) gegründet. In Wien formiert Arnold Schönberg 1904 den Verein schaffender Tonkünst­ler (zum Vergleich: Der Deutsche Werkbund wird erst 1907 gegründet). Durch die Verbreitung der Radiomusik wird 1914 in New York die ASCAP (American Society of Composers, Authors and Pu­blishers) ins Leben gerufen. Sie steht auch im Zusammenhang mit der Sheet Music: einzelnen Notenheften, die von den Musikverlagen der New Yorker Tin Pan Alley herausgegeben wurden. Nach 1930 verliert die Sheet Music an Bedeutung, weil sich durch die Entwicklung der Plattenindustrie eine neue Musikkultur formiert: Rock’n’Roll.

Der Rock’n’Roll definiert Popkultur als Popmusik: Sie muss sich nicht mehr als autonome Kunst gegen den Kommerz verteidigen, sondern macht aus dem Bekenntnis zum ökonomischen Markt ihr offensives ästhetisches Programm. Ist in der Kulturindustrie alle Kultur Ware, so wird mit der Popkultur alle Ware zur Kultur. Das, was heute als »Musik« gilt, hat sich verselbständigt. Man redet über »die Musik« als Ganzes und meint damit lediglich den ökonomischen Sektor, bei dem die Rolling Stones, Madonna, Silbermond oder Beyonce nur noch als austauschbare Platzhalter für die Ware Tonträger funktionieren.

Allerdings geht es um mehr als die vermeintliche Krise der Musikindustrie. Man kann es als folgende Großthese formulieren: So wie das Automobil die fordistische Ära als spezifische Ware markiert, kann der Tonträger als signifikante Ware des Postfordismus gelten. Nun wäre zu fragen, ob sich mit dem Verschwinden der Tonträger der Postfordismus in eine neue Stufe der Wert­vergesellschaftung auflöst. Das hätte vor allem Konsequenzen für den Menschen als Individuum, was schon im Postfordismus eine Idee war, die sich bereits mit dem Fordismus zersetzt hat. Hier ist die Krise.

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