Peter Osbornes Philosophie der Gegenwartskunst

Ein post­konzeptuelles Konzept

»Die Schwierigkeit einer Ästhetik, die mehr wäre als eine krampfhaft neubelebte Branche, wäre, nach dem Ende der idealistischen Systeme: die Nähe des Produzierenden zu den Phänomenen zu verbinden mit der von keinem fixen Oberbegriff, keinem ›Spruch‹ gelenkten begrifflichen Kraft; verwiesen aufs begriffliche Medium, überschritte solche Ästhetik die bloße Phänomenologie von Kunstwerken.« – Adorno, ›Ästhetische Theorie‹ (GS Bd. 7, S. 498)

Die Grundthese von Peter Osbornes fulminanter Großstudie ›Anywhere or Not at All‹, in der er nicht weniger unternimmt als eine, so der Untertitel des Buches, »Philosophie der Gegenwartskunst«1) zu entfalten, ist klar: »Contemporary art is postconceptual art«.2) Beziehungsweise: »Contemporary art, in the critical sense in which the concept has been constructed in this book, is a geo-politically reflexive art of the historical present of a postconceptual kind.«3)

Dabei ist das Postkonzeptuelle – wie auch Postkonzeptionelle – weitaus mehr als nur der kleinste gemeinsame Nenner von Philosophie und Gegenwartskunst (was Osborne hier ja, als an T. W. Adorno geschulter Marxist, dialektisch zusammenzubringen versucht). Es geht um eine Philosophie zur Gegenwartskunst, wie auch um eine aus der Gegenwartskunst sich bestimmende Philosophie4). Sie ist gekennzeichnet durch die ambivalente Figuration, die zumindest bis zur Konzeptkunst theoretischer Ausgangspunkt war, auch für Osborne: Philosophie hat wesentlich mit Begriffen zu tun, Kunst hingegen wesentlich nicht. »The postconceptual« lässt sich nun semantisch interpretieren als die philosophische wie künstlerische Arbeit über den Begriff hinaus (mit Berührung freilich zu Kants Definition des Schönen als »das, was ohne Begriff allgemein gefällt«,5) und Adornos Intervention nichtidentischer Logik, »das Begriffslose mit Begriffen aufzutun«6)).

Mit anderen Worten: es geht um mehr als nur eine Philosophie gegenwärtiger Kunst, die an der Zeit ist. Denn Osborne weiß freilich, dass beide Topoi, die er hier in Verhandlung bringt, nur an der Zeit sind, weil sie unzeitgemäß sind – und eben deshalb der Aktualisierung bedürfen. Solche Aktualisierung verknüpft schließlich einzelne Aspekte zu einer Konstellation, in der Osborne sich mit ›Anywhere or Not at All‹ situiert:

Kunst versus Gegenwartskunst (in Auseinandersetzung mit der kunstgeschichtlichen Selbstverständlichkeit, Kunst immer schon epochal zu periodisieren).7)

Gegenwartskunst als Konzept, also weniger als Ausdruck einer Epoche, sondern eher als eigenständiges Konstrukt: »›Contemporary‹ is, at base, a critical and therefore a selective concept: it promotes and it excludes. […] This concept must be constructed rather than merely discovered.«8)

Gegenwartskunst als postkonzeptuelle Kunst, als Bruch mit ihrer Vorgeschichte, bzw. ihrer Zuspitzung auf einen historischen Umschlagspunkt in den 1960ern. »By ›postconceptual‹ art, then I understand an art premised on the complex historical experience and critical legacy of conceptual art, broadly construed, which registers its fundamental mutation of the ontology of the artwork.«9)

Kunst, concept art, de-conceptualized art. – Osborne mit Bezug auf Dan Graham, Jeff Wall, Gordon Matta-Clark etc.: »[…], there is a conceptual deficit in all conceptions of contemporary art that fails to reflect on its specifically conceptual character. […] ›Art as place‹ and ›art as memory‹ are the two main forms of de-conceptualization in contemporary art criticism and practice.«10)

Ästhetik versus Kunst (ohne dem seit Baumgarten üblichen Postulat zu folgen, wonach die Kunst immer schon Domäne der Ästhetik sei). – Im Rekurs auf den Frühromantiker Friedrich Schlegel führt Osborne aus, dass das Problem nicht das auf das Geschmacksurteil bezogene Ästhetische sei, sondern dessen Verselbstständigung zum Ästhetizismus; »postkonzeptuelle Kunst« kann dagegen durch ihren »Anti-Ästhetizismus« charakterisiert werden.11)

Gegenwart als Zeitpunkt versus Gegenwart als Situation, sowie Gegenwart als Geschichte versus Gegenwart als Verzeitlichung.12) – Das berührt einerseits sämtliche Fragen des (Kunst-) Historischen, vom Problem der Periodisierung und Tradition,13) bis hin zu noch immer virulenten Debatte um Kunstgeschichte als Sozialgeschichte.14) (Andererseits ragt dies ins Problemfeld des Räumlichen, die »global constellation of spaces of places, non-places and flows.«15) )

Osborne traut der Gegenwartskunst (etwa den Arbeiten der Atlas Group, die er immer wieder exemplarisch anführt) zu, transformatorisch über die Gegenwart, i. e. den gegenwärtigen Zustand des globalen Kapitalismus hinauszuweisen. Dass das jedoch in dieser politisch-revolutionären Hinsicht der Philosophie nicht mehr zugetraut wird, begründet für Osborne nachgerade die Notwendigkeit einer Philosophie der Gegenwartskunst als politische Philosophie.

Und das heißt eben nicht, Gegenwartskunst bloß philosophisch plausibel zu machen. Wenn es zu Beginn lapidar-allgemein heißt: »contemporary art is badly known«,16) dann hat Philosophie nicht die Funktion, Wissenslücken zu füllen. Gleichwohl geht es auch nicht um konsequente Kritik (dann hätte Osborne eine ›Critical Theory of contemporary Art‹ geschrieben), sondern um einen Diskurs, oder – wie man mit Deleuze sagen könnte – um Unterhandlungen (›Pourparlers‹). Kurzum: es geht um die Frage: »What kind of discourse is requiered to render the idea of contemporary art critically intelligible?«17)

»Critically intelligible« bezieht sich dabei auf Kant und verschiebt sich nach und nach nicht etwa, abgesehen vom frühromantischen Schlegel-Exkurs, oder der späteren Einlassung auf Koselleck18), auf der Linie Hegel-Marx Richtung Adorno, sondern bleibt – über Husserl wenigstens – bei der Antimoderne, namentlich Heidegger hängen und kapriziert sich aufs Ontologische (durchaus hätte das Buch auch ›Ontology of postconceptual Art‹ heißen können)19). Tatsächlich bleibt aber das, was Osborne »Ontologie« nennt, begrifflich unscharf (man ist versucht, wohlwollend, dies ebenfalls »postkonzeptuell« zu lesen); seine »ontology of the artwork« übersteigert Osborne schließlich ungedeckt ins Vitalistische, wenn er geradewegs euphorisch postuliert: »To the extent art lives, art space is project space, a space of presentation of possibilities within a historically rapidly shifting matrix of places, non-places and flows, their combinatory articulations and effects.«20)

»›Anywhere or Not at All‹ maps out the conceptual space for an art that is both critical and contemporary in the era of global capitalism«, heißt es auf dem Buchrücken. Und Osborne löst das zumindest proklamativ mit seinem Schlusssatz ein: »At its best, contemporary art models experimental practices of negation that puncture horizons of expectation.«21) – »Critically intelligible« wird das mithin nicht durch die Stringenz philosophischer Kritik, sondern durch genau die Philosophie der Gegenwartskunst, die Osborne aus der postkonzeptuellen Konzeptionalität der Kunst selbst gewinnt; und dies ist nur exemplarisch möglich: »A critical discourse of contemporary art can only develop through the interpretative confrontation with individual works.«22) Anders gesagt: die Stringenz gewinnt Osborne in seiner philosophischen Form der Darstellung aus der Gegenwartskunst, die sich eben nicht ohne weiteres darstellen lässt. Das führt zurück zur Romantik, und damit zum ersten Kapital (über u. a. The Atlas Group, Sol LeWitt). Aber es führt noch weiter zurück, nämlich zur Ausgangsthese, dass Gegenwartskunst »postconceptual art« ist. Das aber rekurriert weniger auf das produktionsmaterialistische Theorem vom Ende der Kunst,23) vielmehr geht es Osborne, in Bezug auf »the contemporary in ›contemporary art«, um die Frage »of the defintition of the qualitative novelty of this historical present – that is, the question of the new – and its constant reforming, reframing and reconfiguration of the political meaning and possibilities of social subjects.«24) Ganz im Sinne Heideggers kann diese Frage aber nicht beantwortet, sondern nur expliziert werden. Sie ist selbst Teil der »Fiction of the Contemporary«.25) Hier wie insgesamt argumentiert Osborne für einen Begriff des Postkonzeptuellen mit einem emphatischen »Post-«; es geht also nicht einfach um die Kunst zeitlich nach der Konzeptkunst, sondern um eine Kunst, die das, was die Konzeptkunst schon gegen und innerhalb der Moderne ins Spiel brachte, inkorporiert hat und als solches transzendiert.26) – Im Übrigen erklärt sich damit bündig der Titel, auch als Volte eines postkonzeptuellen Konzepts: »Anywhere or Not at All.«

Peter Osborne, ›Anywhere or Not at All. Philosophy of contemporary Art‹, London und New York: Verso 2013, 288 S. brosch.

[Erstsendung: FSK Radiobücherkiste, 19. Juli 2013.]
  1. Allein die nicht eins zu eins übersetzbaren Begriffe verweisen auf den Problemhorizont von Osbornes Studie, mit der er an eine laufende Debatte anschließt, sie erweitert, ergänzt, verschärft: Sinn- und sachgemäß wird »contemporary Art« mit »Gegenwartskunst« übersetzt, gleichwohl wörtlich »zeitgenössische Kunst« korrekter anmutet (wie auch das deutsche »Gegenwart« zum englischen »Present« synonym zu sein scheint). Allerdings diskutiert Osborne eben auch die Frage der »contemporary Art« unter dem Gesichtspunkt der Vergegenwärtigung, was (auch nicht zeitgenössische) Kunst und (sozialhistorische) Gegenwart in ein reflexives Verhältnis setzt. Ob überdies »zeitgenössisch« überhaupt »zeitgemäß« heißt, wäre erst einmal als Problem zu erörtern. (↑)
  2. Vgl. Peter Osborne, ›Contemporary art is post-conceptual art‹, Vortrag: Villa Sucota, Como (Italien), 2010. – http://bit.ly/A4EVQJ (13. Juli 2013). (↑)
  3. Osborne, ›Anywhere or Not at All‹, London & New York 2013, S. 176. (↑)
  4. Präziser müsste man sagen: es geht um eine Philosophie zur Möglichkeit von Gegenwartskunst, wie auch um die aus der Gegenwartskunst sich bestimmende Möglichkeit der Philosophie. Osborne hätte dies durchaus in der dialektischen Konsequenz mit Ernst Bloch herausarbeiten können, der in Anschuss an Aristoteles die Kategorie Möglichkeit als geschichtliche gefasst hat; etwas verwunderlich ist allerdings, weil in der argumentativen Stringenz nicht nachvollziehbar, dass Osborne hier ausgerechnet, über Husserl kommend, auf Heidegger rekurriert; vgl. S. 178 ff.: Osborne führt die »Langeweile« ein, definiert sie mit Heidegger als »the feeling of possibility itself« (S. 178), um dann, jetzt wieder dialektisch über Benjamin, die »constellation – boredom, distraction, immersion / absorption –[,] fracturing any simply binary dialectical relations, …« erscheinen zu lassen (S. 184). (↑)
  5. Vgl. Immanuel Kant, ›Kritik der Urteilskraft‹, Werke in zwölf Bänden, Bd. X, Frankfurt am Main 1968, S. 298; S. 288 ff. (↑)
  6. Vgl. Theodor W. Adorno, ›Negative Dialektik‹, GS Bd. 6, S. 21: »Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.« (↑)
  7. Vgl. Osborne, ›Anywhere or Not at All‹, a. a. O., S. 46 ff. (↑)
  8. Osborne, ›Anywhere or Not at All‹, a. a. O., S. 2 f. (↑)
  9. Osborne, ›Anywhere or Not at All‹, a. a. O., S. 48. Osborne spricht von einer »ontology of the artwork« in einer originellen, wenngleich nicht begrifflich sauberen, »philosophischen« Weise: »Ontologie« bezeichnet das, was Kunst konstituiert, also Kunst »Kunst« sein lässt, jenseits der Differenzen von Wesen und Erscheinung, Essenz und Akzidenz, »Stoff« und »Form« oder »Stoff« und »Geist«. Dabei untersucht Osborne zunächst »mediations after mediums« (vgl. Kapitel 3, S. 83 ff.), dann das Problem der Materialität (vgl. Kapitel 4, Abschnitt: »Ontology of materializations: non-site«, S. 108 ff.). Im Kapitel 5 diskutiert Osborne die »Photographic ontology« als eine »ontology of the artwork« (vgl. S. 117 ff.). Ontologie bezeichnet also das, was zwischen Vermittlung und Material, dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, dem Digitalen und dem Realen, dem Abstrakten und Konkreten etc. changiert. (↑)
  10. Osborne, ›Anywhere or Not at All‹, a. a. O., S. 144. (↑)
  11. Vgl. Osborne, ›Anywhere or Not at All‹, a. a. O., S. 38 ff., S. 47. Osborne macht diese Konfrontation von Ästhetik versus Kunst bereits für die Konzeptkunst geltend, spricht von einer »general dialectic of the aesthetic and the conceptual«, nennt gleichwohl »aesthetic« und »conceptueal« »oppositional terms« (vgl. S. 109). (↑)
  12. Osborne rekurriert schließlich im Sinne der Verzeitlichung (mit einer begrifflich etwas schillernd bleibenden Nähe zu Heideggers »Geschichtlichkeit« und »Zeitlichkeit«) auf Husserls »Erwartungshorizont«: (postkonzeptuelle) Kunst vermag diesen Horizont zu »durchstechen« (vgl. Osborne, ›Anywhere or Not at All‹, a. a. O., S. 175 ff., insb. S. 208 ff.). (↑)
  13. Vgl. dazu auch Osbornes frühes Verso-Buch ›The Politics of Time: Modernity and Avant-Garde‹, London & New York 1995, Neuauflage 2011. (↑)
  14. Osborne diskutiert das in Hinblick auf die Moderne und Materialität / Medialität (3. Kapitel, S. 71 ff.): der Endpunkt sind die Fotos aus dem Abu Ghraib Gefängnis, Irak 2004. (↑)
  15. Osborne, ›Anywhere or Not at All‹, a. a. O., S. 134. Vgl. 6. Kapitel, S. 133 ff. (↑)
  16. Osborne, ›Anywhere or Not at All‹, a. a. O., S. 1. (↑)
  17. Osborne, ›Anywhere or Not at All‹, a. a. O., S. 2. (↑)
  18. Vgl. Osborne, ›Anywhere or Not at All‹, a. a. O., S. 202 ff. (↑)
  19. Eine Formel, die Osborne selbst benutzt. Vgl. ›Anywhere or Not at All‹, a. a. O., S. 97. (↑)
  20. Osborne, ›Anywhere or Not at All‹, a. a. O., S. 175. (↑)
  21. Osborne, ›Anywhere or Not at All‹, a. a. O., S. 211. (↑)
  22. Osborne, ›Anywhere or Not at All‹, a. a. O., S. 3. (↑)
  23. Die Formulierungen bei Hegel und Marx sind so berühmt wie berüchtigt; radikalisiert wurde das Theorem in den 1970er Jahren in der Bundesrepublik (Scharang, Gorsen, Dischner u. a.). (↑)
  24. Osborne, ›Anywhere or Not at All‹, a. a. O., S. 195. (↑)
  25. Titel und Thema des 1. Kapitels, in: Osborne, ›Anywhere or Not at All‹, a. a. O., S. 15 ff. (↑)
  26. Das hat seine Analogie zum Postmoderne-Begriff wie ihn etwa Jean-François Lyotard benutzt hat in: ›Die Moderne redigieren‹, in: ›Das Inhumane‹, Wien 1989, Lyotard, ›S. 51 ff. (↑)

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