Freibaduniversität August 2007

Einige Bemerkungen zur poststrukturalistischen Theoriemode am Beispiel von Gilles Deleuze

Der französische Philosoph Gilles Deleuze gehört zusammen mit seinem Freunden und Kollegen Michel Foucault und Félix Guattari zu den einflussreichsten Vertretern des so genannten Poststrukturalismus, einer Theorie, die sich – wie der Name unschwer erahnen lässt – aus dem Strukturalismus heraus entwickelt hat. Grundlegend für den Strukturalismus ist – auch das verrät freilich das Wort – die Struktur, und das heißt die Annahme, dass gesellschaftliche Beziehungen wesentlich durch Strukturen geprägt und definiert werden, wobei etwa für die Ethnologie Strukturähnlichkeiten zwischen gesellschaftlichen oder kulturellen Zusammenhängen auffällig waren, die auf den ersten Blick vollkommen unterschiedlich organisiert schienen (etwa in Bezug auf Sitten, Geschlechterverhältnisse, Politik, Recht, Ökonomie etc.). Als Begründer des Poststrukturalismus gilt Roland Barthes (1915 bis 1980), der Ende der sechziger Jahre mit seinem Essay ›Der Tod des Autors‹ Aufsehen erregte. Seine These in diesem Essay: Es gebe überhaupt keine Autorität im Sinne eines schöpferischen, originale Werke hervorbringenden Autors als autonomer Urheber, sondern jede Textproduktion sei eine Verkettung von Zitaten und zitierten Zitaten, von Anspielungen und Verweisen auf bereits bestehende Texte.

Diese, zunächst in der Literaturwissenschaft kursierende These wurde alsbald auch von der Philosophie und Gesellschaftstheorie dort aufgegriffen, wo ohnehin schon der Einfluss der Linguistik und darüber hinaus die Sprachwissenschaft für einen so genannten Paradigmenwechsel sorgten – der dann später als ›linguistic turn‹ bezeichnet werden sollte. Ausgeweitet wurde die These vom Tod des Autors in der Rede vom Tod des Subjekts, womit mindestens ein Verschwinden des Subjekts gemeint war. Sofern die Strukturen, mit denen sich der Strukturalismus beschäftigte, vorrangig als sprachliche gedeutet und beschrieben wurden, indem man die Welt in einen Text übersetzte, erschienen auch alle praktischen, konkreten und materialen Verhältnisse der Menschen untereinander und zu sich selbst als Strukturen von Sprache oder Zeichen; alles, was wir ›Mensch‹, ›Subjekt‹, ›Ich‹ und so weiter nennen, ist strukturell eine Verkettung von linguistischen Zeichen und Operationen. Der Mensch ist eine Definition, und agiert nicht nur innerhalb der Grenzen dieser Definition, sondern seine menschlichen Aktivitäten, sein Aktionsradius gewissermaßen sind durch die Sprache und als Sprache definiert. Das bedeutet für die Anthropologie: Sofern der Mensch, griechisch Anthropos, wesentlich durch das Wort, griechisch Logos, bestimmt ist, forderten die Poststrukturalisten nicht nur eine Kritik des Anthropozentrismus, sondern eine Kritik des logozentrischen Weltbildes und Wissenschaftsverständnisses. Die den Menschen strukturierende Ordnung der Sprache sowie die daraus resultierende von der Sprache abhängige Ordnung sollte grundsätzlich hinterfragt werden: Man könne nicht länger philosophisch vom Menschen ausgehen …

Michel Foucault – er lebte von 1926 bis 1984 – hat diese Forderung mit seiner Archäologie und Genealogie moderner Machtpraktiken der Normierung und Disziplinierung präzisiert; er untersuchte die »Erfindung des Menschen« durch die so genannten Humanwissenschaften (also Medizin, Rechtswissenschaft, Pädagogik) sowie Diskurse und Techniken der Einschließung (also Gefängnisse, Irrenanstalten, Arbeitshäuser, Kasernen, Schulen und dergleichen).

Gilles Deleuze – er lebte von 1925 bis 1995 – gab dem eine philosophische Grundlage, allein schon dadurch, dass er den üblichen philosophiegeschichtlichen Kanon von Autoren verwarf: Er ging vor allem zurück zur Barockphilosophie und ignorierte den philosophischen Fortschritt der Linie Kant, Hegel, Marx: Dialektik und eine Theorie des historischen Materialismus lehnte er entschieden ab und verteidigte ein unsystematisches, bewusst inkonsistentes Denken, welches eine Weltphilosophie verwarf und statt dessen auf ein ›theatrum philosophicum‹, ein philosophisches Theater hinauslief. Die von Deleuze bevorzugten Philosophen sind neben Spinoza vor allem Henri Bergson und Friedrich Nietzsche – also Denker, die eigentlich gegen die Philosophie oder nach der Philosophie philosophieren. In diesem Sinne vertritt auch Deleuze eine postphilosophische Position, ohne sich aber aus dem akademischen Rahmen der Philosophie zu lösen. Damit läuft seine Kritik der Philosophie auf etwas diametral anderes hinaus als Marx’ Kritik der Philosophie, die in einer revolutionären Theorie der Praxis mündet: Deleuze unternimmt den Versuch, mit der Philosophie den philosophischen Essentialismus, mit dem Denken den Idealismus aufzulösen. Was bei ihm »Begriff« heißt, ist das Gegenteil von dem Hegelschen Konzept der Begriffslogik: Deleuze geht es um Neuschöpfung von Begriffen, die sich jeder Idee oder idealen Prägung, jeder essentialistischen Struktur widersetzen – das in diesem Sinne antihierarchische Denken vollzöge sich in Fluchtlinien und fände sich in Rhizomen ausgebreitet.

Zusammen mit dem Psychoanalytiker Félix Guattari – er lebte von 1930 bis 1992 – verfasste er einige Schriften, wobei ›Anti-Ödipus‹ von 1972, Untertitel ›Kapitalismus und Schizophrenie I‹, und ›Tausend Plateaus‹ von 1980, Obertitel ›Kapitalismus und Schizophrenie II‹, heute als Schlüsselwerke des Poststrukturalismus gelten. In ›Tausend Plateaus‹ wird der Begriff des Rhizoms beziehungsweise der Ansatz der Rhizomatik eingeführt: Das Rhizom ist ein Pilzgeflecht, welches der nach Ansicht von Deleuze und Guattari ansonsten in der abendländischen Geschichte üblichen Baumstruktur entgegengestellt wird. Zumindest ihrem Selbstanspruch nach beabsichtigten Deleuze und Guattari mit den ›Tausend Plateaus‹ eine Fortsetzung des ›Kapitals‹ von Marx zu liefern – ein Plateau ist nicht nur eine Ebene, sondern auch ein Kapitel; die Zahl Tausend ist dürfte allerdings wohl nur metaphorisch für »Viele« gemeint sein, denn tatsächlich finden sich in dem 645 Seiten umfassenden Buch »nur« fünfzehn Kapitel …

Mithin hatte und hat Deleuze, ebenso wie Guattari und vor allem Foucault, Einfluss auf die Theoriedebatten der linken Bewegung. Insbesondere die verschiedenen Fraktionen der postpolitischen und liberaldemokratischen Kulturlinken orientierten sich in den neunziger Jahren maßgeblich an Deleuze, Foucault und Guattari, beziehungsweise deren Denkfiguren: mit den Schlagworten »Macht«, »Kontrolle«, »Rhizomatik«, »Nomadologie« und dergleichen wurden so nach und nach die kritische Theorie der Gesellschaft und damit die materialistische Kritik der politischen Ökonomie, die dialektische Kritik der Kultur und die historische Kritik der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse im Sinne einer konkreten Totalität abgedrängt und schließlich als veraltet oder gar widerlegt zurückgewiesen. – Gerade die suggestive Sprache und die gedanklichen Assoziationen von Deleuze scheinen für die modische Attraktivität des Poststrukturalismus nicht unwesentlich zu sein. Der nachfolgende Text versucht, diese Attraktivität kritisch zu hinterfragen.

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