Freibaduniversität Juli 2007

Siebzig Jahre kritische Theorie

1937 erschien Max Horkheimers Aufsatz ›Traditionelle und kritische Theorie‹ in der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹

Am 13. März 1933 wird knapp eineinhalb Monate nach Beginn des NS-Regimes das Gebäude des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main geschlossen. Am 14. Juli 1933 wird das Institut schließlich von der Gestapo aufgrund »staatsfeindlicher Bestrebungen« aufgelöst. 1931, also zwei Jahre zuvor, hatte der Sozialphilosoph Max Horkheimer im Alter von sechsunddreißig Jahren die Leitung des Instituts übernommen und war gerade dabei, eine Forschungsgruppe zusammenzustellen, zu deren engeren Kreis dann unter anderen Theodor W. Adorno, Leo Löwenthal, Herbert Marcuse, Friedrich Pollock und Erich Fromm gehören werden. Horkheimer bringt das Institut über Genf und Paris nach New York, wo es an der Columbia Universität eine neue Wirkungsstätte findet. Nach und nach emigrieren weitere Mitarbeiter nach Amerika in die Vereinigten Staaten. Im Zentrum der Forschungsarbeit stand die Herausgabe der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹, das Organ des Instituts – sie erschien von 1932 bis 1941. In der von Horkheimer herausgegebenen Zeitschrift – die in den letzten drei Jahrgängen unter dem Titel ›Studies in Philosophy and Social Science‹ erschien – veröffentlichten zahlreiche Linksintellektuelle und marxistische Theoretiker, wie etwa der Literaturwissenschaftler Hans Mayer, die Ethnologin Margaret Mead, der Philosoph Raymond Aron, der Marxexperte Karl Korsch oder der Soziologe Henri Lefebvre; auch innerhalb des Horkheimer-Kreises kontrovers diskutierte Theoretiker wie Günther Anders, Karl Löwith oder Otto Neurath konnten Buchrezensionen in dem umfangreichen Besprechungsteil der Zeitschrift unterbringen. 1936 erschien hier – in französischer Übersetzung und redaktionell gekürzt – Walter Benjamins berühmter Essay ›Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‹; im selben Jahrgang veröffentlichte Adorno unter dem bissigen Pseudonym Hektor Rottweiler in der Zeitschrift seine rücksichtslose Kritik ›Über Jazz‹. Ein Jahr später, also im Jahrgang 1937, werden dann in der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ zwei programmatische Beiträge publiziert: ›Traditionelle und kritische Theorie‹ von Horkheimer sowie der in zwei Teilen von Horkheimer und Marcuse verfasste Aufsatz ›Philosophie und kritische Theorie‹.

Diese beiden Aufsätze – vor allem Horkheimers ›Traditionelle und kritische Theorie‹ – werden als Gründungsdokumente einer, zumeist großgeschriebenen »Kritischen Theorie« der so genannten »Frankfurter Schule« verstanden. – Ich möchte dem entgegen zeigen, dass Horkheimer und Marcuse in diesen Texten die kritische Theorie nicht erfunden haben. Gleichwohl ist unbestreitbar, dass in diesen Aufsätzen das Konzept einer kritischen Theorie der Gesellschaft programmatisch gefasst worden ist: allerdings, und das möchte ich darstellen, haben diese Aufsätze für die Entwicklung der kritischen Theorie selbst gar nicht die Bedeutung, die ihnen später zugesprochen wurde. Schon jetzt sei darauf verwiesen, dass die 1937 in der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ publizierten Aufsätze bis in die sechziger Jahre nur äußerst schwer zugänglich waren, beziehungsweise in Raubdrucken kursierten, bis schließlich Marcuse seinen Teil von ›Philosophie und kritische Theorie‹ 1965 in seinem Aufsatzsammelband ›Kultur und Gesellschaft 1‹ wieder veröffentlichte – 1968 folgte eine amerikanische Übersetzung für seinen Band ›Negations. Essays in Critical Theory‹; Horkheimer hat schließlich ›Traditionelle und kritische Theorie‹ sowie seinen Teil von ›Philosophie und kritische Theorie‹ erst 1970 in seinem gleichnamigen Sammelband ›Traditionelle und kritische Theorie‹ wieder offiziell zugänglich gemacht. Die ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ erscheint im Übrigen erst 1980 im Reprint; das heißt über Jahrzehnte war kaum bekannt, welche Beiträge mit welchem Stellenwert in der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ überhaupt publiziert wurden. – Ferner geht es mir darum, deutlich zu machen, inwiefern für den damals formulierten Begriff der kritischen Theorie der Gesellschaft die zeitlichen und insbesondere räumlichen Umstände der Emigration eine Rolle spielen; dass die Texte in New York verfasst wurden, bleibt ihnen nicht äußerlich – zumal wenn man bedenkt, welche epochalen Umbrüche sich zu dieser Zeit sozial und kulturell weltweit sowie in der US-amerikanischen Metropole zutragen.

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