Freibaduniversität Juni 2007

»Um es ganz kurz zu sagen: Ich betrachte die Welt jetzt mit anderen Augen. Das ist ganz kurz. Um ihnen eine dezidierte Auskunft zu geben, müsste ich weiter ausholen und das würde wahrscheinlich ihre Zeit überstrapazieren.« Das ist die bündige Antwort von Theo Tetschet auf die Frage, was ihm das bringt, an der Kölner Volkshochschule die Soziologiekurse zu besuchen. Tetschet ist Automatenaufsteller. Und das will er auch bleiben, aber, fügt er hinzu, »das sagt ja nicht, dass ich auch dumm bleiben muss.« Die beliebten Kurse, an denen Tetschet zusammen mit einigen Arbeitern und Angestellten teilnimmt, leitet der damals schon Siebenundsiebzig-Jährige Leo Kofler. Damals heißt: 1984. Bereits seit drei Jahrzehnten wirkte Kofler zu der Zeit als Dozent in Köln; seit 1951 war er in der gewerkschaftlichen Jugend- und Erwachsenenbildung aktiv; in Bochum übernahm er 1972 einen Lehrstuhl an der soziologischen Fakultät. Im Rheinland und Ruhrgebiet seinerzeit ein bekannter Linksradikaler, ein geschätzter politischer Aktivist, ein guter Lehrer; er hat ein umfangreiches Werk hinterlassen und über Philosophie, Soziologie, Psychologie, Ästhetik, Literatur und Geschichte geschrieben – ein namhafter kritischer Theoretiker, und dennoch und darüber hinaus nahezu unbekannt. Wer ist dieser Leo Kofler?

Zum einhundertsten Geburtstag Koflers hat der Bochumer Sozialhistoriker Christoph Jünke eine siebenhundertseitige monumentale Biografie über den marxistischen Einzelgänger verfasst. Zugleich hat Jünke eine Gesellschaftsbiografie geschrieben, die sich wie ein gewaltiger Exkurs zum »kurzen zwanzigsten Jahrhundert« (Hobsbawm) liest: mit Kofler begibt sich Jünke auf Spurensuche nach – so auch der Titel des Buches – ›Sozialistischem Strandgut‹, aus dem sich die Geschichte der europäischen Linken rekonstruiert. Das bezeugt etwa das erste Koflerzitat, das Jünke seiner Studie voranstellt: »Aus dem Werk eines Genies lässt sich allerhand nach- und beweisen, aber historisch zu verstehen ist dieses Werk nur auf dem Wege der Ableitung seines Geistes aus dem Geiste seiner Zeit und seiner angeblichen ›Widersprüche‹ aus den Widersprüchen seiner Zeit«, schreibt Kofler in seiner 1948 publizierten ›Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft‹ (nach Jünke, S. 11). Und Günter Brakelmann resümiert in seinem Vorwort zu Jünkes Buch und über dieses: »Es ist ein linker Dauerdialog, der hier entfaltet wird … Es ist das Verdienst des Verfassers, dass er die Diskussionen und Auseinandersetzungen, die Übereinstimmungen und Entfremdungen innerhalb der linken Szene gekonnt und spannend darzustellen vermag. Und mitten in sie hinein stellt er Kofler, aber nicht als den Größten und über jede Kritik Erhabenen. Des Autors Leidenschaft scheint überhaupt zu sein, eine systematische Ordnung in die Erscheinungsformen der Neuen Linken zu bringen, um sie untereinander dialogfähiger zu machen. Kofler wird einer unter vielen marxistischen Denkern. Er wird nicht zum Vordenker stilisiert.« (Brakelmann, in: Jünke, S. 8) In Jünkes Worten: »Dass Koflers Werk in seinem Innersten zur Geschichte der so genannten Neuen Linken gehört, eine der zentralen Thesen dieses Buches, wird auch durch die Geschichte der Kofler-Rezeption sinnfällig.« (S. 16) Grob und kurz gesagt: Koflers Werk wird bis heute ignoriert, hat bisher nicht die systematische Stellung innerhalb der linksradikal-theoretischen Debatten, die ihm zukommen müsste. Und genau diese Rezeption, also vielmehr die versäumte Rezeption verweist auf die Desiderate in der Neuen Linken, auf die Lücken in der kritischen Theorie der Gesellschaft selbst. Dass Kofler schon in derselben Zeit nur peripher wahrgenommen wird, in der die poststrukturalistische Verabschiedung des Marxismus ihre ersten Erfolge feiert – obgleich indes Kofler in seinen Schriften der siebziger und achtziger Jahre zu weitaus kritischeren Diagnosen über die Lage des Individuums in der Postmoderne kommt als die Postmoderne-Apologeten selbst –, verleiht Jünkes großer wie großartiger Monografie eine politische Aktualität, wenn man bedenkt, inwieweit sich heute auch in Teilen der vermeintlichen Linken als Meinung durchgesetzt hat, dass Marxismus und kritische Theorie obsolet seien.

(48)