Kinderstadtleben
Vor allem in den fünfziger bis siebziger Jahren machte eine Künstlervereinigung von sich Reden, die unter dem Namen ›Situationistische Internationale‹ agierte. Die Situationisten bemühten sich um eine Kunst, welche in das moderne Leben einzugreifen vermochte, welche störte und irritierte. Die Kunst sollte aus den Museen befreit werden und dort stattfinden, wo auch das Leben seinen Ort hat: in den modernen Metropolen, in den ausufernden und wachsenden Riesenstädten unseres Jahrhunderts. Es ging vor allem darum, der besonderen Erfahrung urbaner Räume Rechnung zu tragen, beziehungsweise überhaupt eine Wahrnehmungsweise zu entwickeln, die der Großstadt angemessen ist, die erfahrbar macht, was Großstadt für den Menschen bedeutet. Programmatisch wurde deshalb von einer »Geopolitik« gesprochen, von einer »städtischen Geographie« oder »Psychogeographie«, womit gemeint war, »sich die Erforschung der genauen Gesetze und exakten Wirkungen des geographischen Milieus zur Aufgabe zu machen, das, bewusst eingerichtet oder nicht, direkt auf das emotionale Verhalten des Individuums einwirkt.«
Was die Situationisten für die Kunst proklamierten, ist zweifelsohne auch in den Gesellschaftswissenschaften ein zentrales Thema. Die Soziologie hatte maßgeblich die Stadt vor Augen, die sozialen Massen sind urbane, das Individuum vor allem ein großstädtisches. Was der Soziologie allerdings fehle, so der Hamburger Stadtsoziologie Jens Dangschat in einem Tagungsband mit bündig-warnenden Titel ›Die Krise der Städte‹, ist ein theoretisches Verständnis von Raum: »Sozialwissenschaften sind prinzipiell unräumlich.« Und das, so der einhellige Befund der in dem Tagungsband versammelten Beiträge, wo sich gegenwärtig in den Veränderungen der städtischen Strukturen eine soziale Katastrophe abzuzeichnen beginnt: Entsolidarisierung, Fremdenfeindlichkeit, Ghettobildung, unkontrollierte und unkontrollierbare Gewalt, Ausgrenzung. Alexander Mitscherlich prägte 1965 die berühmt gewordene These von der »Unwirtlichkeit unserer Städte«; doch der heutige Befund reicht weiter, weshalb Wilhelm Heitmeyer nach dem »Versagen der Integrationsmaschine Stadt« fragt. Das vorläufige Resultat: Es bildet sich eine »neue städtische Unterklasse« in – schon von Robert Park sogenannten – cities within the city. Und diese Unterklasse macht insbesondere durch Jugendliche (in Ausschreitungen, Schlägereien, Beschaffungskriminalität) auf sich aufmerksam.
Die Hamburger Kinderpsychologin Martha Muchow (1892–1933) widmete sich im Prinzip denselben Frage, fokussierte allerdings eine andere Altersgruppe: Kinder. Untersuchungsort war Barmbek-Süd, jenes im II. Weltkrieg vollständig zerstörte Arbeiterviertel. Sie greift – wenn man so will – den Situationisten vor: Unter dem Begriff der Straßensozialisation thematisiert sie Lebenszeit versus Lebensraum; die Stadt leistet eine Art »spontane Erziehung«, gleichwohl ist die Stadt immer schon die gelebte Welt des Kindes, wird also nicht an das Kind herangetragen. Die Untersuchungen, wie das Kind den Großstadtraum zu seiner Welt »umlebt« (im Sinne von umwandelt), wurde unter dem Titel ›Der Lebensraum des Großstadtkindes‹ zwei Jahre nach Martha Muchows Freitod 1935 veröffentlicht; Forschung und Herausgabe gestalteten sich durch Repressionen der Nazis zunehmend schwerer, zumal die Arbeiten im engsten Zusammenhang mit dem Hamburger Psychologischen Laboratorium standen, dessen Leiter der bekannte Entwicklungspsychologe William Stern war. Hans Heinrich Muchow, der an den Forschungen seiner Schwester maßgeblich beteiligt war, gab die Studie schließlich heraus.
»Die Straße ist die Welt des Kindes« – diese These steht quer zur pädagogischen Meinung der damaligen Zeit; Reformpädagogen wie Bernhard Hell sprachen von den »verderblichen Einflüssen der Großstadt« und idealisierten die »bäuerliche Gesellschaftsordnung« als geeigneten Ort der Erziehung. Dagegen lenken Muchow und Muchow ihre Aufmerksamkeit auf den Lebensraum, womit sie den »Spielraum« und »Streifraum« der Kinder zusammenfassen: Vor allem nutzen Kinder Räume, die von den Erwachsenen gar keine oder negative Beachtung finden, wie zum Beispiel leere Bauplätze. Ebenso funktionieren die Kinder Räume für ihre Zwecke um: Gitter, Geländer und Zäune sind keine unberührbaren Grenzen, sondern Klettergerüste, Orte zum Ausruhen oder Hintergrund für Spiele.
Die Geschwister Muchow unterscheiden das »Durchleben«, das »Erleben« und das »Umleben« des Großstadtraumes. Äußerst interessant und informationsreich liest sich der Bericht, wie die Kinder für sich das – im II. Weltkrieg zerstörte – Karstadt-Warenhaus eroberten und entdeckten. War es für die Erwachsenen ein »Museum moderner Bedürfnisartikel«, so übte das Warenhaus auf die Kinder einen dreifachen Reiz aus: Die Schaufenster mit den Auslagen (also Fassade), mehr noch das Hineinkommen (da das Betreten des Hauses nur in Begleitung von Erwachsenen gestattet war, oder mit elterlichen Besorgungsauftrag, musste man geschickt am Wachpersonal vorbei), schließlich und wesentlich das Warenhausinnere (hier vor allem: Rolltreppen). Jüngere Kinder nutzten das Warenhaus und sein Angebot, um eigene Spiele zu entwickeln, man sammelte Preise oder Reklamezettel; ältere Kinder spielten in der Szenerie Erwachsen-Sein und kopierten das Kaufverhalten oder berieten sich über Waren; oft hielten sie mit diesem Spiel Verkaufsangestellte zum Narren.
Kinder sind nicht nur Opfer sozialer Umstände, sondern sie gestalten ihre Umwelt mit – dies in der Forschung zu reflektieren, ist das Programm der Reihe »Kindheiten« im Juventa-Verlag, die Jürgen Zinnecker mit Imbke Behnken betreut: ein guter Ort also für eine Neuausgabe der Studie ›Der Lebensraum des Großstadtkindes‹, die Zinnecker schon 1978 als Reprint herausgab. Nun erscheint dieses lange Zeit schwer zugängliche, aber in den achtziger Jahren meistdiskutierte »klassisches Werk zur sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung« mit biographischen Kalender und Bibliographie zu Leben und Werk Martha Muchows. Zinnecker hat den Band zudem mit einem Essay versehen, der die Studie der Geschwister Muchow im Spiegel gegenwärtiger Forschung betrachtet und einige eigene Reflexionen auf den Wandel großstädtischer Kindheit bietet. Dazu gehört neben einem Gespräch mit Hans Heinrich Muchow von 1978 auch die Befragung von alten Barmbekern, die dort ihre Kindheit zur Zeit der Muchow-Studie verbrachten. Das traurige Ergebnis möge jeder selbst überprüfen: große Trauben von spielenden und stromernden Kindern, die einst das Stadtbild prägten, sind fast vollständig von den Straßen verschwunden. Dies kann mit einem Satz des französischen Soziologen Henri-Pierre Jeudy kommentiert werden: »Die Stadt ist immer nur ihr eigenes Andenken und ihre Wirklichkeit bemisst sich danach, ob die Bilder, die sie unaufhörlich hervorbringt, ansteckend, übertragbar sind.« Wie übertragen sich aber solche Bilder von Generation zu Generation? Wenn die Kinder wirklich von den Straßen verdrängt werden, dann wird auch die Stadtgeschichte der Kinder unsichtbar. Man darf also auch in pädagogischer Hinsicht Jeudys Frage stellen: »Wie kann eine Stadt die Widersprüche lösen, vor die sie die Bewahrung und Zerstörung ihrer Geschichte stellen?«
Dem postmodernen Soziologen hätte Martha Muchow wohl geantwortet: ›Die‹ Stadt löst gar keine Widersprüche; es sind die Menschen mit ihren je unterschiedlichen Lebensräumen. Ein Großstadtraum, der für alle Menschen gleich wäre, ist eine Fiktion. Gleichwohl durchleben Kinder die Stadt als Raum-Einheit, als ein geographisches Ganzes. Damals waren sechs Prozent der großstädtischen Gesamtfläche einem Vierzehnjährigen bekannt. Der Raum ist eine Erlebniseinheit, in dem das Kind seine eigene Geschichte auslebt. Zum Beispiel ist »Nähe« nicht nur geometrisch zu verstehen, sondern auch die »Nähe vom Kinde aus«, weshalb der Stadtteil Rotherbaum für ein Barmbeker Kind 1931 durch den Sportplatz und das Völkerkundemuseum näher war als das an Barmbek angrenzende Harvesterhude.
Die Methode, mit der die Geschwister Muchow zu solchen Ergebnissen kamen, gehört selbst schon zu einem spezifischen urbanen Erfahrungsbegriff und Raumverständnis, auch wenn das Forschungsverfahren zunächst einfach anmutet: Sie ließen die Kinder einen Stadtplan anfertigen. In einen Hamburgplan sollten die Kinder in verschiedenen Farben die ihnen bekannten Straßen und Plätze einzeichnen, ihre Spiel- und Streifräume. Dies ist im übrigen ein Verfahren, welches auch die Situationisten für die Entwicklung einer urbanen Praxis anwendeten. Sie ließen eine Studentin in einem Pariser Stadtplan alle ihre Wege verzeichnen, die sie im Laufe eines Jahres zurücklegte. Eine andere Technik zur Änderung der Stadterfahrung war, unbekannte Städte oder Stadtteile mit ortsfremden, also falschen Stadtplänen zu entdecken.
Martha Muchow u. Hans Muchow, Der Lebensraum des Großstadtkindes, neu hg. v. Jürgen Zinnecker, Reihe: Kindheiten (Bd. 12), Juventa Verlag: München und Weinheim 1998, 168 S. brosch.
Link zum Vorwort der Neuausgabe 2012: hier.
Wilhelm Heitmeyer, Rainer Dollase, Otto Backes (Hg.), Die Krise der Städte. Analysen zu den Folgen desintegrativer Stadtentwicklung für das ethnisch-kulturelle Zusammenleben, Suhrkamp Verlag: Frankfurt/M. 1998, 470 S. brosch.
Henri-Pierre Jeudy, Stadterfahrungen. Tokio, Rio, Berlin, New York, Lissabon, Merve Verlag: Berlin 1998, 80 S. brosch.
Zum Martha-Muchow-Institut in Hamburg: hier.
[Lorettas Leselampe, FSK, 24. Februar 1999. Der Text erschien gekürzt in ›Hamburg macht Schule‹, Heft 1 / 1999.]
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