Kultur ist Aneignung (und Aneignung ist Kultur)
Ich bekomme das Buch erst jetzt in die Hände – ein Exemplar der 4. Auflage. In jedem Fall: ein kluges, notwendiges Buch. Warum? – Dazu erst einmal provisorisch:
In der ›Jungle World‹ hat Konstantin Nowotny geschrieben: »Ist Ethnokitsch von Dreadlocks bis Räucherstäbchen also am Ende eine Technik der Wiedergutwerdung – und deswegen gerade bei Rechten und denen, die ganz und gar nicht rechts sein wollen, so beliebt? Das ein Buch von so geringem Umfang solche Fragen provoziert, ist eine Leistung. Und zwar eine, die das simple Sortieren in ›Aneignung‹ und ›keine Aneignung‹ schon nach wenigen Seiten so wirken lässt, wie es ist: reichlich dumm.«
»Ein Reizthema der Gegenwart, bei dem es lohnt, es sich nicht zu einfach zu machen«, ist auf der Verlagsseite über das Büchlein zu lesen; und: »Die Rede von kultureller Aneignung ist allgegenwärtig. Infrage steht mit ihr gerade für eine progressive politische Position die Legitimität kultureller Produktion, die sich an den Beständen anderer, ihr ›fremder‹ Traditionen bedient. Während viele diese als eine Form des Diebstahls an marginalisierten Gruppen kritisieren, weisen andere den Vorwurf zurück: Er drücke eine Vorstellung von Identität aus, die Berührungspunkte mit der völkischen Rechten aufweise. Tatsächlich, so zeigt Jens Balzer, beruht jede Kultur auf Aneignung. Die Frage ist daher nicht, ob Appropriation berechtigt ist, sondern wie man richtig appropriiert. Kenntnisreich skizziert Balzer im Rückgriff auf die Entstehung des Hip Hop wie auf die erstaunliche Beliebtheit des Wunsches, ›Indianer‹ zu sein, in der bundesdeutschen Nachkriegszeit eine Ethik der Appropriation. In ihr stellt er einer schlechten, weil naturalisierenden und festlegenden, eine gute, ihre eigene Gemachtheit bewusst einsetzende Aneignung entgegen. Ausgehend von dem Denken des Kreolischen Édouard Glissants und Paul Gilroys ›Schwarzem Atlantik‹ sowie der Queer Theory Judith Butlers wird eine solche Aneignungsethik auch zur Grundlage eines aufgeklärten Verhältnisses zur eigenen Identität.«
Man überliest es fast, deshalb noch einmal: »Jede Kultur beruht auf Aneignung!«
Was Balzer hier also auf wenigen Seiten liefert, bündig und strigent, ist nicht weniger als eine kritische Theorie der Kultur; anders gesagt: eine Aktualisierung jener kritischen Theorie der Kultur, die – zu lesen vor dem Hintergrund der von Adorno analysierten Kulturindustrie – die Cultural Studies ab Mitte der 1950er zu begreifen versuchten: Als »whole way of life«, also Lebensweise (Williams); als Kampf um eine Lebensweise und damit auch als eine Form wirklicher Bewegung, nämlich prozessualer Aneignung – und schließlich als das schlechthin »Exponierte« (nach Mike Bal), also im Sinne eines eben »expositorischen Kulturbegriffs«, was den Prozess der Aneignung dann selbst zur Praxis macht, die man sich aneignen muss … Also: Kultur ist Aneignung, ebenso wie Appropiation Kultur ist. Insofern haben Leute wie Stuart Hall schon früh Kultur als (politische, widerständige) Praxis der Identifikation, als Herstellung von Identität verstanden: Soziale Praxis als Produktion von Bedeutungen.
Das heißt: Keine Appropriation ohne Artikulation, keine Appropriation ohne Repräsentation. Keine Kultur ohne Menschen. – Und doch: »Die Menschen sind immer noch bessere als ihre Kultur« (Adorno).
[To be continued … So viel aber schon hier: Gut und gerne hätte Balzer darauf verzichten können, seine »Ethik der Appropriation« erst mit Foucault und dann ausgerechnet mit Butler zu stützen; mit Bezug auf Butlers – zugegeben frühe – Behauptung*, dass »Drag in dem Maße subversiv [sei], in dem es die Imitationsstruktur widerspiegelt, von der das hegemoniale Geschlecht produziert wird, und in dem es den Anspruch der Heterosexualität auf Natürlichkeit und Ursprünglichkeit bestreitet« (zit. n. S. 68), resümiert Balzer: »Vielleicht kann man aus ihren Gedanken so etwas wie eine Ethik der Appropriation herauslesen, die uns aus der einfachen Gegenüberstellung Alles-verbieten und Alles-erlauben herausführt« (S. 70). Herauslesen ja, begründen nein.]
Anmerkung
* »Behauptung«, weil auf philosophisch stupiden und zudem auch alles andere als »kritisch informierten« Annahmen über soziale Verhältnisse beruhend, die Butler einigermaßen phantasielos und ohne jedwede »empirische Evidenz« (und überdies auch geschichtsrevisionistisch-ahistorisch, i.e. antimaterialistisch) über eine Verabsolutierung der zweiten Natur bloß vorgibt zu erklären. Ärgerlich ist es im Übrigen, dass Butler sich nicht einmal die Mühe macht, ihre notorischen antizionistischen Aus- und Anfälle an ihren eigenen queer-theoretischen Maßgaben zu prüfen (wo ihr die argumentativen Mängel dieser und der misanthropische Mist jener sofort auffielen); so bleibt von ihr nur der armselige Beleg, dass Hass spricht …
Zur Verlagsseite: hier.
Jens Balzer, ›Ethik der Appropriation‹, (Reihe: Fröhliche Wissenschaft Bd. 207) Matthes & Seitz Berlin 2022, 87 S., brosch.
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