Alle Wege führen zum Dom

Die Stadt ist eine politische Baustelle. Andreas Neumeister skizziert in seinem neuen Roman »Könnte Köln sein« eine Biografie der Städte.
Der Philosoph Leibniz bemerkte vor gut dreihundert Jahren, noch an der Schwelle zur Neuzeit, »wie eine und dieselbe Stadt, die von verschiedenen Seiten betrachtet wird, als eine ganz andere erscheint und gleichsam auf perspektivische Weise vervielfacht ist«. Leibniz’ Ansicht gilt der barocken, rationalen, geordneten und cartesianischen Stadt, die ihm als Beispiel für die Mannigfaltigkeit der Welt gilt, nämlich für das, was er »Monade« nennt: eine Einheit, die gerade aufgrund ihrer Gleichheit und Selbs­t­ähnlichkeit sich in jedem Blickwinkel anders dar­stellt. Mit seinem Bild beschreibt Leibniz zugleich die moderne Stadt – nicht unbedingt ihre Realität, wohl aber ihr Ideal, das die nachfolgenden Jahrhunderte bestimmen wird.
Der Blick auf den urbanen Raum, den Andreas Neumeister in seinem collagenhaften Roman »Könnte Köln sein« freigibt, sieht anders aus. Ohnehin gibt es heute die Stadt nur noch im Plural; aber nicht, weil das Urbane so vielfältig wäre, eben so pluralistisch, sondern gerade weil die Eindimensionalität keinen Blick auf die Stadt als für sich charakteristisches Ganzes, als je abgeschlossene Einheit mehr zulässt. Bei Neumeister sind es die verschiedenen Städte, die niemals gleichen Städte, die diffusen Städte, die in ihrer Unterschiedlichkeit doch je dieselben sein können. Und so wie man es in Leibniz’ Bild mit dem Paradigma der modernen Stadt zu tun hat, so in Neumeisters Roman mit dem Paradigma der postmodernen Stadt.
Dennoch beschreibt Neumeister hier nicht die postmoderne Stadt, wie man sie in den letzten dreißig Jahren als postmoderne Stadt präsentiert bekommen hat: Er beschreibt nämlich die Stadt, die Städte, den urbanen Raum ganz unprätentiös, uneitel, aber doch präzise: Nicht die große Metapher von der Ruine, welche die moderne und postmoderne Stadt gleichermaßen begleitet, interessiert ihn, sondern die Realität der Stadt als Baustelle – im faktischen wie auch über­tragenen Sinne. »Städte. Baustellen« heißt deshalb der Roman »Könnte Köln sein« im Untertitel; und Neumeister liefert keine Berichte von Städtereisen, sondern Baustellenreisen – diese sind zugleich historische Ausflüge, die aber doch in einem geschichtslosen Raum sowie in einer raumlosen Zeit bleiben. Das ist vielleicht die gewaltigste Erkenntnis, die Neumeister hier entfaltet: Wo die Städte Baustellen geworden sind, sind sie nicht nur zeitlos – das ahnte man schon – , sondern auch ortlos, irgendwann und irgendwo, nirgendwo. Schon der Titel deutet das an: Bisher waren das die Metropolen, die in ihrer Selbstähnlichkeit solche Verwechslung provozierten – die Reißbrettstädte, von denen die Stadtforschung im letzten Jahrhundert immer wieder behauptet hat, Stadt X sehe wie Stadt Y aus, also São Paulo wie Chicago, Kapstadt wie Hongkong. Aber das ist eben nur richtig unter dem Vorzeichen, dass die Städte selbst nicht mit sich identisch sind: São Paulo sieht schon in der nächsten Straße nicht mehr wie São Paulo aus und Paris nicht wie Paris. Jetzt kommt aber Neumeister nach München, Los Angeles, Moskau, aber auch nach Brixen, Eschtal, Otepää und sagt: Könnte Köln sein.
Köln, die zweitausend Jahre alte Stadt, ehemals Großstadt, ist heute Kleinstadt – vor allem im Hinblick auf das Alltagsleben in Köln. Bei Neumeister hört sich das so an: »Erst mal was trinken, erst mal ein Kölsch.« Oder: »Brauhaus Päffgen sagt (Selbstdarstellung): Der Nabel der Welt ist Köln. Der Mittelpunkt von Köln ist das Brauhaus Päffgen, und der Nabel der Gaststätte ist der Beichtstuhl mit seinem Thekenschaf …«
Mit dem Dom ist Köln das religiöse Zentrum Deutschlands, heiliges römisches Reich deutscher Nation: »Die Domplatte wurde 2006 in der ZDF-Reihe Unsere Besten zum beliebtesten Ort in Deutschland gekürt.« Doch Köln als Baustelle sieht anders aus: »Kann mir irgendwer erklären, was es mit dem Kult um das eigentlich winzige Belgische Viertel auf sich hat?« Und: »Köln-Kompakt-Kompilation, rührend ausgeprägter Lokalstolz.« Das Zentrum Deutschlands am Rhein, »am deutschesten aller deutschen Flüsse«, ist schließlich ein »am Standort Köln« in Betrieb genommenes Rechenzentrum: Das ist die Stadt als Baustelle – »weitere features: (…) – Redundante Stromzuführung – n+1 Klimatisierung«. Das Ende des Romans korrespondiert mit dem Anfang: »Abb.: Adam baut die Urhütte.« Und: »Abb.: Die Urhütte«. Das sind zwei Hinweise auf nicht gedruckte, insofern unsichtbare Abbildungen – ein Verfahren, das Neumeister schon in anderen Büchern probierte.
Die erste Stadt ist Rom: »Rome, Stadt der Sprüche, wasn’t built in a day. Rom wurde auch nicht in einer Woche errichtet. Nicht in einem Jahr und auch nicht in einem Jahrtausend.« Und: »Rom ist Baustelle. Schon seit über 3000 Jahren ist Rom Baustelle. Auch nach mehr als 3000 Jahren ist Rom noch immer nicht fertig.« Was folgt daraus? »Die modernsten Bauten der Stadt stammen aus der Zeit des Faschismus. Das kann ich ohne groß zu verallgemeinern behaupten.«
Die Baustellen, die wir Städte nennen, sind immer politische Baustellen meist misslungener Geschichte: Da, wo die Städte am wenigsten Baustelle, also am fertigsten und am meisten gestaltet sind, da sind sie auch am brutalsten, gewaltvollsten. Genau das bildet den Übergang von der modernen zur postmodernen Stadt; ohne diese epochalen Kategorien zu verwenden, hat Alexander Mitscherlich das vor vier Jahrzehnten in seinem berühmten Buch als »die Unwirtlichkeit unserer Städte« diagnostiziert: »Unsere Städte und unsere Wohnungen sind Produkte der Phantasie wie der Phantasielosigkeit, der Großzügigkeit wie des engen Eigensinns. Da sie aber aus harter Materie bestehen, wirken sie auch wie Prägestöcke; wir müssen uns ihnen anpassen. Und das ändert zum Teil unser Verhalten, unser Wesen.« Doch wie wird das Verhalten, gar das Wesen des Großstadtmenschen verändert? Wie unterscheidet sich das, was Georg Simmel 1903 in seinem Aufsatz »Großstadt und Geistesleben« beschrieb und etwa in Romanen wie Alfred Döblins »Berlin Alexanderplatz« (1929) seinen literarischen Ausdruck fand, von Alltag und Erfahrung in den Städten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und schließlich von heute?
So wie Mitscherlichs Befund damals von der Beat-Literatur kontrastiert wurde – man denke an Hubert Fichtes »Die Palette« von 1968 –, so steht Neumeisters Städtebaustellenroman im Kontext der beiden urbanistischen Großthesen, der von der wachsenden Stadt und der von den Shrinking Cities. Entscheidend ist, dass Neumeister mit »Könnte Köln sein« die Matrix einer Erfahrungsstruktur liefert, zu der bisher die Stadtforschung nur im selbstgefälligen, bornierten Jargon fähig war. »Wo überall Menschen wohnen! Wohnen und mitten in der Pampa aus dem Bus aussteigen. Auch im Dunkeln.« Neumeisters lapidare und gewiss auch banale Feststellung nimmt im Gefüge des Romans program­matische Züge an und durchbricht jede Selbstverständlichkeit, mit der man sich bisher in Städten zu bewegen glaubte. Dazu passt, dass das Buch Gordon Matta-Clark gewidmet ist: Der 1978 jung verstorbene Künstler hatte in den Siebzigern mit der Motorsäge ganze Häuser durchtrennt und so eine Anarchitektur der Dekon­struktion geschaffen, die nun, 2008, Neumeister mit den Mitteln der Literatur fortsetzt.

Andreas Neumeister: Könnte Köln sein. Suhrkamp, Frankfurt a/M. 2008, 276 S., 16,80 Euro

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