Paul Martin Neuraths Studie über die Struktur der deutschen Konzentrationslager

Die Gesellschaft des Terrors

»Es gibt eine weit verbreitete Ansicht, der zufolge faschistischer Terror eine vorübergehende geschichtliche Phase sei, die glücklicherweise nun hinter uns liege. Ich kann mich dieser Ansicht nicht anschließen, sehe den Terror vielmehr als tief in der Dynamik moderner Zivilisation und besonders moderner Wirtschaftsorganisation verwurzelt. Das Widerstreben, das Phänomen des Terrors in all seinen Implikationen rückhaltlos zu erforschen, ist in sich selbst ein unterschwelliges Symptom des Terrors.«1) Mit diesen Sätzen leitet Leo Löwenthal seinen 1945 geschriebenen Bericht ›Individuum und Terror‹ ein, in dem er die ersten, damals bereits bekannten Häftlingsberichte über die nazideutschen Konzentrationslager auswertete. Symptomatisch und ebenso zynisch ist es, dass Löwenthals Text zwar 1946 in der Zeitschrift ›Commentary‹ erscheint, aber erst fast vierzig Jahre später, 1982, im ›Merkur‹ erstmals auf Deutsch veröffentlicht wird. Bestätigt wird damit Löwenthals Verdacht, dass man sich den Tatsachen des Terrors entziehe.

Auch Paul Martin Neuraths Studie über die Struktur und den Aufbau der Konzentrationslager Dachau und Buchenwald, schon 1943 fertig gestellt, ist erst jetzt in deutscher Sprache zugänglich – im Übrigen bisher mit wenig Resonanz. Einmal mehr scheint sich damit zu bestätigen, was Löwenthal als eine »psychische Massenverdrängung«2) bezeichnete.

Neuraths ›Die Gesellschaft des Terrors‹ »liegen fast ausschließlich Erinnerungen des Autors zugrunde. Zusätzliches Material stammt aus Diskussionen mit vielleicht zehn früheren Mithäftlingen.« (S. 393) Vom 1. April 1938 bis zum 27. Mai 1939 war Neurath in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald als Jude und Sozialist inhaftiert. Der 1911 in Wien geborene Paul Martin Neurath ist Sohn des Philosophen Otto Neurath. Eine erste Promotion in Rechtswissenschaft schließt er 1937 ab; nach seiner Entlassung flieht er zunächst nach Schweden, emigriert 1941 in die Vereinigten Staaten. An der Columbia Universität in New York studiert er Sozialwissenschaften und promoviert mit ›Die Gesellschaft des Terrors‹ (Prüfungsverfahren 1943; Einreichung der überarbeiteten Dissertation folgt erst 1951). Er ist Forschungsassistent bei Paul F. Lazarsfeld, später Professor für Soziologie am New Yorker Queens College; in Wien wird Neurath 1975 Honorarprofessor und leitet dort das von ihm gegründete Lazarsfeld-Institut bis zu seinem Tod 2001.

»Ich habe es als meine Aufgabe betrachtet, nicht zu schildern, was ich durchgemacht habe, sondern was für die Behandlung im Lager typisch ist« (S. 401), schreibt Neurath in seinem ›Nachtrag‹ von 1943. Neuraths ›Innenansichten‹ sind nicht Augenzeugenbericht, sondern eine präzise Studie über das »soziale Leben in den deutschen Konzentrationslagern« (so der Titel der eingereichten Dissertation): er versteht sich als teilnehmender Beobachter in der Position des beobachteten Teilnehmers. Der Terror des Lagerlebens wird konterkariert durch die soziologischen Probleme, denen sich die Sozialwissenschaften in den Vierzigern ohnehin gegenüber sahen: Wie ist soziales Handeln verstehbar, beschreibbar, veränderbar, wenn, bedingt durch Fordismus und totalitäre Organisation der Massen, die soziologischen Kategorien von Klasse, Familie, Individualität außer Kraft gesetzt scheinen? In diesem Grundproblem ist Neuraths Studie durchaus vergleichbar mit William F. Whytes soziologisch grundlegender Untersuchung ›Street Corner Society‹ von 1943, in der das Sozialverhalten im Getto agierender Jugendbanden untersucht wurde. Auch hier ging es wie bei Neurath um zum Alltag werdende Gewaltverhältnisse.

Dass Neurath von den Lagern als Gesellschaft spricht, ist keineswegs nur Metapher oder Analogie: Neurath zeigt, weshalb die Lager nicht nur Teil der Gesamtgesellschaft sind, zeigt aber vor allem, weshalb die Lager gerade in ihrer Abgeschlossenheit die Gesellschaft überhaupt strukturieren. Die Organisation des Lebens im Lager spiegelt sich in der Organisation der Wärtersystems – im Konzentrationslager Buchenwald kann das heute noch an der Architektur des Geländes nachvollzogen werden. Gerade die grausame Alltäglichkeit des Lagerlebens lässt eine »mehr oder weniger strukturierte Gesellschaft« entstehen. »Individuen, Gruppen und ganze Häftlingskategorien finden ihren festen Platz auf einer sozialen Stufenleiter, die nicht weniger kompliziert und nicht weniger von Vorurteilen bestimmt ist als jenseits des Zauns, auch wenn sich die Kriterien, nach denen jemand bewertet wird, bis zu einem gewissen Grade von denen draußen unterscheiden.« (S. 197)

Zu berücksichtigen ist, dass Neurath weder über Vernichtungslager schreibt, noch über die Situation in den Konzentrationslagern nach 1941. Perfiderweise hatte Neurath deshalb mit seiner Studie weniger Erfolg als die Berichte über Massenmord und das Vernichtungssystem. Dabei gibt Neuraths Bericht detailliert Aufschluss darüber, inwiefern die Vernichtungslogik von Anfang an die Struktur und Ordnung des Lagerlebens bestimmte. Durchaus erinnert Neuraths Bericht so an die These Giorgio Agambens, nach der das Lager zur bestimmenden sozialen Figur der Gegenwart geworden sei. Doch Neurath ist hier mit seinen Innenansichten wesentlich präziser: »Wenn … Menschen ins Konzentrationslager geworfen werden, dann sind sie dort nicht nur, weil man sie vom Rest der Welt absondern will, sondern auch weil sie als Individuen gebrochen werden sollen. Dieser Zweck wird nicht schon durch die bloße Tatsache der Internierung erfüllt, sondern ist ein langsamer Prozess, und die Häftlingsgesellschaft wirkt diesem Zweck in der Regel entgegen.« (S. 199) Die Praxis des Terrors ist es, den Menschen zu eliminieren, »ihn aus der Gesellschaft herauszuschneiden wie ein Stück faules Fleisch aus dem lebenden Körper« (S. 199). Aber innerhalb der Häftlingsgesellschaft »findet der Mensch wieder einen Sinn für seine Existenz … Für Tausende von Häftlingen besteht die Aufgabe nur darin, ›durchzuhalten‹, aber wenn die physische Existenz als solche ein täglicher Triumph über Hölle und Terror ist, ist dies allein bereits eine wichtige Aufgabe.« (S. 199) Gegenseitige Hilfe, Solidarität wird zwangsläufig zur Strategie des Überlebens. Immer wieder schildert Neurath, wie aus unterschiedlichsten Motiven Häftlinge sich gegenseitig Verpflegung organisieren, insbesondere für die Juden, die von Anfang an härteren Bedingungen ausgesetzt waren. »Damit liefert die Häftlingsgesellschaft den Rahmen, innerhalb dessen Individuen und Gruppen ihren Platz und ihre Funktionen in der Kooperation wie im Konflikt finden. Sie stellt sich dem Terror des Lagers entgegen, dem Angriff auf die Individualität ihrer Mitglieder und dem Versuch der Lagerleitung, den Häftlingen ihre Idee einer Klassifikation nach Rasse und Verbrechen und Unterwürfigkeit aufzuzwingen.« (S. 207) Neurath schränkt allerdings ein: »All dies heißt nicht, dass die Häftlinge eine einzige geeinigte Masse des entschlossenen Widerstands bilden; es heißt nicht, dass das gemeinsame Leiden sie alle gut und hilfsbereit macht; sie tun einander einzeln und in Gruppen genauso viel Gutes und genauso viel Böses an, wie es auch draußen der Fall wäre.« (S. 206) So finden sich auch in der Häftlingsgesellschaft Vorurteile, Konflikte, schließlich antisemitische Ressentiments gegen jüdische Mithäftlinge.

Zum Schluss seiner Studie widmet sich Neurath der Frage, warum Häftlinge nicht zurückgeschlagen haben. Dies ist keine Frage des Mutes, des Stolzes oder der Möglichkeiten, Widerstand zu leisten. Indes darf nicht vergessen werden, dass es sehr wohl Widerstand gab, der sich wesentlich auf das Überleben konzentrierte. Die Kraft, sich zur Wehr zu setzen, wurde im Lager gebrochen, sobald der Häftling eingeliefert und ihm damit jede Individualität abgesprochen wurde. »Dieses Muster wurde in Konzentrationslagern überall in Deutschland über Jahre hinweg genauestens befolgt. Es ist so sorgfältig und bis ins letzte Detail geplant und wird so exakt umgesetzt, dass auch nicht der leiseste Verdacht möglich ist, hier handle es sich etwa um zufällige sadistische Ausschreitungen einzelner Lagerkommandanten.« (S. 391)

Neurath zeigt, dass die Lager einer präzise kalkulierten Ordnung folgten, die von vornherein den Einzelnen ausschloss: als Opfer ebenso wie als Täter. Die Gesellschaft des Terrors bleibt damit nicht auf das Lagersystem beschränkt, sondern bildet schließlich die Grundstruktur der NS-Gesellschaft. Neuraths Bericht stimmt hierbei weitgehend mit den ebenfalls erst vor wenigen Jahren publizierten Berichten Herbert Marcuses über die »deutsche Mentalität« überein (›Feindanalysen‹, hg. von Peter-Erwin Jansen, Lüneburg 1998).

Ein biografisches Nachwort über Paul Martin Neurath und die Bedeutung der Studie für die Forschung über Konzentrationslager von Christian Fleck, Albert Müller und Nico Stehr schließt das Buch ab.

[Erstsendung: FSK Hallenbaduniversität, 1. November 2006, 14.00 bis 15.00 Uhr, 11:15 Sprechzeit]

  1. Leo Löwenthal, ›Individuum und Terror‹, in: Schriften 3, Frankfurt am Main 1990, S. 163. (↑)
  2. Ebd., S. 163. (↑)

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