Herbert Marcuses ›Feindanalysen‹
als Band 5 der ›Schriften aus dem Nachlass‹

Psychische Neutralität und soziale Konformität

Herbert Marcuse, der 1934 in die Vereinigten Staaten nach New York emigrierte, arbeitete von 1942 bis 1951 für den US-amerikanischen Geheimdienst, etwa für das Office of Strategic Services und andere Abteilungen des State Departments, mit der Aufgabe, in Forschungsberichten über die Bedingungen und Merkmale des deutschen Nationalsozialismus aufzuklären, um den Krieg gegen Deutschland auch auf der Ebene der antifaschistischen Propaganda gezielt zu führen und letztendlich den Terror in Europa zu besiegen, Nazideutschland zu zerschlagen. Die Forschungsberichte sind bereits 1998 unter dem Titel ›Feindanalysen. Über die Deutschen‹ von Peter-Erwin Jansen als Monografie herausgegeben worden und erschienen jetzt noch einmal als fünfter und damit abschließender Band der im selben Verlag und ebenfalls von Jansen editierten ›Schriften aus dem Nachlass‹. Verändert hat sich natürlich die Aufmachung des Buches (es gibt zum Beispiel zahlreiche Abbildungen, Fotos etc.); ferner ist der Aufsatz ›Staat und Individuum im Nationalismus‹ hinzugekommen, den wir jetzt vorstellen wollen.

Das hier auf knapp vierundzwanzig Seiten wiedergegebene Manuskript schrieb Marcuse vermutlich Anfang der vierziger Jahre, 1940 oder 1941, jedenfalls vor 1942. 1940 erhielt Marcuse die amerikanische Staatsbürgerschaft, lebte zu dieser Zeit in Kalifornien, reiste aber zu Vorträgen und Forschungszwecken nach New York, wo er auch den Text als Vortrag referierte. Es gibt Hinweise darauf, dass seinerzeit geplant war, diesen Text zusammen mit Beiträgen der Kollegen Arkadij Gurland, Franz Neumann, Otto Kirchheimer und Friedrich Pollock als Aufsatzsammlung zu publizieren; dieses Buch ist aber nie erschienen.

Die Thesen in ›Staat und Individuum im Nationalismus‹ überschneiden sich mit den Thesen der anderen Berichte, führen einiges aus oder ergänzen es. Wie in den anderen Texte widerspricht Marcuse dem damals, aber bisweilen heute noch immer gängigen Bild vom Nationalismus: Der Nationalsozialismus ist kein Staats-Totalitarismus gewesen, keine Gesellschaft, die den Menschen – die Deutschen – rücksichtslos und auf brutale Weise gegen ihren Willen unterdrückte; ganz im Gegenteil ist das entscheidende Merkmal des Nationalsozialismus, so Marcuse, seine integrative Kraft und die umfassende, fest in der Bevölkerung verankerte Neutralität des Bewusstseins und Konformität des gesellschaftlichen Lebens.

Allein von diesen Thesen aus lässt sich der Text ›Staat und Individuum im Nationalsozialismus‹ situieren zwischen Marcuses Essay ›Einige gesellschaftliche Folgen moderner Technologie‹ [›Some Social Implications of Modern Technology‹; jetzt in: Schriften Bd. 3] von 1941, in dem Marcuse den Begriff der technologischen Rationalität entwickelt, und ›Triebstruktur und Gesellschaft‹ von 1955 [Schriften Bd. 5], wo die These entfaltet wird, inwiefern das Leistungsprinzip das Realitätsprinzip ablöst, und schließlich ›Sowjet-Marxismus‹ [Schriften Bd. 6], eine politisch-ökonomische Kritik der stalinistischen Gesellschaft des Realsozialismus.

Kern des Manuskriptes ›Staat und Individuum im Nationalsozialismus‹ ist der Befund: »Der Nationalsozialismus ist weder revolutionär, noch restaurativ. Was also ist er?« (S. 141)

Und Marcuse erläutert diese Frage zunächst – wir zitieren:

»Die geläufige Interpretation des Nationalsozialismus wird von zwei seiner offensichtlicheren Merkmale bestimmt: 1. vom totalitären Charakter des Staats, und 2. vom autoritären Charakter der Gesellschaft. Diese Phänomene sollen den Nationalsozialismus als absolute Herrschaft des Staats über alle privaten und gesellschaftlichen Beziehungen und als absolute Unterdrückung aller Rechte und Fähigkeiten des Individuums kennzeichnen.« (S. 141 f.)

Und dann antwortet Marcuse – wir zitieren wieder:

Zu den Wesensmerkmalen des modernen Staates »gehört die Trennung zwischen Staat und Gesellschaft. Der Nationalsozialismus hat sie weitgehend aufgehoben, indem er den tatsächlich an der Macht befindlichen gesellschaftlichen Gruppen politische Funktionen übertragen hat. Anders gesagt, neigt der Nationalsozialismus zur direkten und unmittelbaren Selbstherrschaft der dominanten gesellschaftlichen Gruppen über den Rest der Bevölkerung und manipuliert die Massen, indem er die brutalsten und eigensüchtigsten Instinkte des Individuums freisetzt.« (S. 142)

Das heißt die Verbindung von Staat und Gesellschaft im Nationalsozialismus basiert wesentlich in der Idee der deutschen Volksgemeinschaft, die in der Struktur der NS-Gesellschaft selbst ihre Praxis findet. Damit ist auch der Nationalsozialismus modern, verwirklicht das »Leistungsprinzip« und die »technologische Rationalität« – Begriffe, die Marcuse hier selbst verwendet –, aber in einer spezifischen Weise; das bringt den Nationalsozialismus in die Nähe zu anderen politisch-ökonomischen Systemen der Epoche, markiert aber eben auch drastisch die Differenz:

»Wenn es etwas Totalitäres im Nationalsozialismus gibt, dann ist es sicherlich nicht der Staat … Hitler selbst hat sich gegen den totalitären Staat gewendet und verkündet, für den Nationalsozialismus sei gerade typisch, dass er die Unabhängigkeit und Vormachtstellung des Staates leugne.« (S. 144)

Weiter:

Der Staat ist »lediglich als Teil eines sehr viel umfassenderen Plans [zu] betrachten; … dieser Plan [wird] durch die expandierenden Bedürfnisse des deutschen Kapitalismus ins Leben gerufen und bestimmt.« (S. 144)

Dazu gehört, dass die »ökonomischen Beziehungen … in politische Beziehungen transformiert werden.« (S. 146)

Dieses gelingt im Nationalsozialismus durch die »durchgängige Mobilisierung der Arbeitskraft des Individuums.« (S. 156) Sie »reißt die letzte Wand nieder, die es [i. e. das Individuum] vor der Gesellschaft und dem Staat zu schützen vermochte: sie zerstört seine ganze private Freizeit.« (S. 156)

Eine Folge davon ist die Krise des Individuums selbst:

»Mit der Mobilisierung der Freizeit ist eines der letzten Bollwerke gefallen, hinter denen die fortschrittlichen Elemente des Individualismus noch weiterleben konnten.« (S. 157)

Die Freizeit, etwa in Form der »Kultur«, stellt keine Rückzugsmöglichkeit für das Individuum mehr dar; immer tritt der Deutsche als Teil des Nationalsozialismus in Erscheinung. So wie dies auf politischer Ebene durch die Nivellierung des Gegensatzes von Staat und Gesellschaft erreicht wird – was sich beispielsweise in der Wehrmacht oder in der Organisation »Kraft durch Freude« widerspiegelt –, wird es auf individueller Ebene etwa durch die »Beseitigung hochsanktionierter Tabus« (vgl. S. 159) gewährleistet – maßgeblich im Bereich der Sexualität oder durch Sexualisierung des Alltagslebens beziehungsweise der »Volksgemeinschaft« –, die den Menschen mehr und mehr in das System des Nationalsozialismus integrieren.

Der Staat erscheint schließlich, wie Marcuse schreibt, als »Maschine«.

»Diese Maschine, die das Leben der Menschen überall und jederzeit erfasst, ist umso schreckenerregender, als sie zwar mit großer Effizienz und Genauigkeit arbeitet, dabei jedoch in ihren Aktionen völlig unberechenbar und unvorhersagbar bleibt. Niemand, es sei denn ein paar ›Insider‹, weiß, wann und wo sie das nächste Mal zuschlagen wird. Sie scheint dabei einer inneren Notwendigkeit zu folgen und reagiert doch flexibel und gehorsam auf die geringste Veränderung in der Organisation der herrschenden Gruppen.« (S. 152)

So resümiert Marcuse damals: Die spektakulären Inszenierungen, die vom Nationalsozialismus übermittelt werden (die zum Beispiel auch der US-amerikanischen Öffentlichkeit bekannt waren) »verschmelzen zum Bild einer Ordnung, die noch die verborgensten Gefahrenzonen der individualistischen Gesellschaft ins Ebenmaß des Gleichschritts gebracht hat, und sie bewegen die Individuen dazu, eine Welt zu bejahen, der sie nur als Mittel zur Unterdrückung dienen.« (S. 163)

Marcuse beschreibt hier nicht nur den Terror des Nationalsozialismus, sondern auch Strukturen der fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaft, die jenseits des Nationalsozialismus weiter bestehen – sei es auch in demokratischer Gestalt und unter Bedingungen garantierter bürgerlicher Freiheiten und Rechte. Mit anderen Worten: Marcuses Diagnose verweist auf Strukturen, die auch die gegenwärtige gesellschaftliche Totalität charakterisieren, gerade in ihrer Widersprüchlichkeit und Heterogenität. Die Einheit von Staat und Gesellschaft, die konstitutiv für den Nationalsozialismus war, hat sich in der post-fordistischen Ära längst gelockert: Staat und Gesellschaft stehen wieder in einem dynamischen Verhältnis zueinander; einmal erscheint der Staat der Gesellschaft gegenüber untergeordnet, dann wieder der Gesellschaft übergeordnet. Zugleich hat sich damit aber die Politik als vermittelnde Instanz zwischen Staat und Gesellschaft insofern aufgehoben, als dass sie ein scheinbar neues Feld etabliert hat: die Kultur. In diesem Stadium hat der Staat seine Souveränität der Gesellschaft gegenüber partiell zurückgewonnen; eine Souveränität, die in ihrer politischen Konsequenz gleichgültig bleibt, aber nicht in ihren ökonomischen Folgen. Ebenso haben sich scheinbar die Menschen ihre Individualität zurückerobert, die aber gleichsam politisch folgenlos bleibt, weil sie ökonomisch an das Prinzip der Identifikation mit den Waren gebunden ist. Als Individuen befestigen die Menschen einen von ihnen nur vollkommen verzerrt wahrgenommenen Zustand, der die Möglichkeit der Emanzipation, die den wirklichen Menschen als Individuum freisetzen könnte, permanent und systematisch verhindert, einen Zustand, der gleichzeitig aber eben als fortschreitende Selbstverwirklichung des Einzelnen oder der Gruppe erscheint. Es kommt zu einer konformistischen Gesellschaft, in der die Menschen sich ihrer persönlichen Freiheit so sicher wähnen, selbst wenn diese ganz offensichtlich keine politische Grundlage hat, dass sich jede Form der konformistischen Pseudo-Individualität auch als Nonkonformismus gerieren kann. Voraussetzung dafür bleibt, wie Marcuse es analysierte, eine »psychische Neutralität«, die besagt, dass die Verhinderung der Möglichkeit des Widerstands und der Mangel an utopischer Phantasie nachgerade als Realitätssinn und sachlich-rationale Einstellung in der Persönlichkeitsstruktur verankert worden sind.

Herbert Marcuse, ›Feindanalysen. Über die Deutschen‹, Schriften aus dem Nachlass Band 5, erweiterte Neuausgabe, hg. u. mit einem Vorwort v. Peter-Erwin Jansen, Einleitung von Detlev Claussen, a. d. Amerikanischen v. Michael Haupt, zu Klampen Verlag: Springe 2007, 169 S. Hardcover.

(Erstsendung: 28. September 2007; Radiobücherkiste 10.00 bis 12.00 Uhr. Sprechzeit: 12:22 Minuten)

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