Musik für junge Leute
Unterhaltung mit zwei jungen Frauen (in der Heidi-Klum-Sprache: »Mädchen«), sechzehn und siebzehn Jahre alt. Die Sommerferien beginnen, dazu finden einige Schulabschluss-Partys statt. Die beiden wollen am Abend tanzen gehen. Sie haben sich einen Club auf der Reeperbahn ausgesucht, der auf Facebook Werbung mit dem Versprechen einer »Großen Sause« macht. Was das bedeutet, hat sich offenbar über die letzten …
Was ist das Digitale?
Was bedeutet »digital«? Zurück zum Barock: Das Adjektiv »digital« wird in den 1650er Jahren erstmals im physiologisch-anatomischen Sinne mit der Bedeutung »in Bezug auf Finger oder Zehen« verwendet und ist dem Lateinischen ›digitus‹ = Finger, Zehe entlehnt (verwandt mit Lat. ›dicere‹ = »zeigen«). Gebildet wurde das Adjektiv aus dem Substantiv ›digit‹, das bereits nachweislich im späten 14. Jahrhundert …
Geschichte,
Fortschritt,
Subjekt
Survival of the fittest: das ist Überleben durch Anpassung. Erst die Moderne bringt gesellschaftliche Verhältnisse hervor, durch die das von Spencer formulierte und für Darwins Theorie gemeinte Evolutionsgesetz ausgehebelt ist: Anpassung sichert nicht mehr das Überleben. An die durch den Gang des Fortschritts bedingten Zustände von Elend, Armut und Hunger kann sich kein Mensch mehr anpassen; der Kapitalismus, der den Menschen als Naturverhältnis gegenübertritt, hat die als Überlebensfähigkeit geübten Anpassungen in gesellschaftliche Leistungen und Zwänge des Konformismus übersetzt, die den Menschen permanent mit Integration und Desintegration bedrohen. Selbst die Möglichkeit der ideologischen Anpassung ist obsolet; es gibt keinen garantierten Schutz der Tarnung mehr, sich durch Unterordnung und Mitmachen im Alltagsgeschehen durch Unauffälligkeit versteckt zu halten. Ebenso dort, wo die Zivilisation sich gegen ihren unmittelbaren Umschlag in Barbarei behauptet, in der so genannten westlichen Welt, bietet sie keine Sicherheit zu überleben. Das heißt mithin, dass die auch Zivilisation keinen Maßstab mehr darstellt, mit dem sich Geschichte, ein geschichtliches Ziel oder ein geschichtlicher Fortschritt begründen ließe.
Notizen zur Orgel
[…] Die Anfänge der Orgel reichen in die Antike zurück. Im Mittelalter etabliert sich dann die Orgel als Kircheninstrument, ihre Technik vereinigt die zwei Grundlagen, die fundamental für den Kapitalismus sind: die Präzision einer Uhr und das mechanische Werk einer Mühle. Sie gilt schon früh als »Königin der Instrumente«, sie funktioniert ›feudal‹: ein Orgelspieler spielt alle Instrumente; Dynamik …
Die Vormoderne als Moderne nach der Postmoderne
Viele Bilder, die heute als Revival der Zwanziger wiederholt werden, scheinen den Wunsch nach einer sicheren bürgerlichen Lebensweise zu illustrieren: Indem sich bei der Antimoderne bedient wird, möchte man modern sein.
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Die »Modern Times« – das waren die zwanziger Jahre, die mit rasanten technischen Fortschritten den Menschen das Radio, den Flugverkehr, die Schlagermusik, den Tonfilm und die Einbauküche brachten, die zu ihrem Ende hin eine neue, allgemeinverbindliche Kultur der Angestellten etablierten, mit der sich jede Verkäuferin und jeder Fabrikarbeiter jenseits der objektiven Klassenlage seine subjektiven Vergnügen in der Freizeit ausstaffieren konnte; das waren die zwanziger Jahre, in denen trotz Weltwirtschaftskrise die Menschen sich genügsam auf die Glücksversprechen der neuen Konsumgesellschaft einließen; das waren die zwanziger Jahre nach dem Ersten Weltkrieg und vor dem Zweiten (die Eric Hobsbawm gerade mit Blick auf die globalen sozialen Verhältnisse der Zwanziger als einen großen Weltkrieg darstellt), das waren die Jahre, in denen das Experiment der Sowjetgesellschaft misslang, die Arbeiterbewegung sich gegen das »raffende Kapital« auf die schaffende Kraft der Arbeit kaprizierte, und der Faschismus in Italien schonmal vorlegte, was die Deutschen in systematischer Wert- und Vernichtungsarbeit ab 1933 dann gründlicher machten, etc.
In den zwanziger Jahren konzentrierte sich in einer bislang nicht gekannten historischen Dichte die später von Adorno und Horkheimer als solche beschriebene Dialektik der Aufklärung. Zu ihr gehört, dass nach 1945 sowohl progressive, demokratische, auch sozialistische Kräfte, als auch Reaktionäre und Faschisten an die Zwanziger anschließen wollten: Nicht zuletzt, weil hier eine zurückgelassene Moderne vermutet wurde, um deren Rettung oder wenigstens Wiederbelebung man sich bemühte, redlich – kulturell und politisch.
Ihr Leben kann zu
Schulungszwecken aufgezeichnet werden
Eine Karikatur: Auf einer belebten Straße, womöglich im Zentrum einer Großstadt; die Leute gehen umher, beinahe alle sehen gebannt in ihre Smartphones, bemerken nicht, was um sie herum geschieht. An einem Haus hängt ein großes Schild, auf dem mit Computerschrift steht: »Ihr Leben kann zu Schulungszwecken aufgezeichnet werden«.
Das wird eine Kritik des Behaviorismus dezidiert zu untersuchen haben: Inwieweit die Konditionierungen der Menschen in der verwalteten Welt mit der Konfiguration von Sicherheit, Beobachtung und schließlich Überwachung durch digitale Technik zusammenhängt – und zwar insbesondere im Kontext der Entwicklungen seit den 1970er Jahren, inwiefern nämlich individualisiertes Rollenverhalten mit den verschiedenen Möglichkeiten der Kontrolltechnologie durch Computerisierung und Kybernetisierung zusammenhängt: Ein entscheidender Faktor scheint zu sein, dass die Technologie in den Sozialisationsprozess implementiert wurde – oder besser: sich implementierte.
Es muss nämlich davon ausgegangen werden, dass dies der Strukturlogik einer Gesellschaft folgt, die ihre letzthin anarchische Ökonomie des Kapitals zur Krisenvermeidung oder zumindest, um den Anschein der sozialwirtschaftlichen Stabilität zu wahren, durch kybernetische oder überhaupt technische Verfahren zu glätten versucht. Denn der Kapitalismus schreibt sich keineswegs widerspruchsfrei in die Subjekte ein; eine Technik, die auf der formalen Logik eines binären Systems basiert, bietet sich an, die unmittelbar auf Sozialität bezogenen menschlichen Verhaltensweisen gleichsam wie ein Betriebssystem zu steuern, das Konflikte in »Programmfehler« zu kodieren vermag. Das ist dem Prinzip nach eine Automatisierung, die bereits im neunzehnten Jahrhundert mit der Industrialisierung beginnt und sich dann im zwanzigsten Jahrhundert in der mechanischen Optimierung der Arbeitsabläufe in der fordistischen Fabrik fortsetzt; seit dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert greifen hierbei Sozialtechniken zur Orientierung (Ausrichtung, also »Ostung«, P. Brückner) der Menschen als Bevölkerung: das ist das Zusammenspiel von Städteplanung, Hygienemaßnahmen, Entstehung von Freizeit und für die Freizeitgestaltung nötige ›moderne‹ Rituale wie Sitten und Gebräuche sowie am Freizeitverhalten ablesbare »Mentalitäten«, Massenpsychologie, Rassismus, Nationalismus, Tourismus und schließlich Behaviorismus (vgl. Klaus-Jürgen Bruder, ›Psychologie ohne Bewusstsein. Die Geburt der behavioristischen Sozialtechnologie‹, Frankfurt am Main 1982; siehe ebenso: Michel Foucaults Konzept der Biopolitik. Auch ist in diesem Zusammenhang auf die Untersuchung der Bedeutung von »Kalkulierbarkeit« etwa bei Georg Simmel oder Georg Lukács – im Zusammenhang mit Verdinglichung – hinzuweisen). Diese Orientierung der Bevölkerung konditioniert »die Masse« und, vor allem, konstituiert sukzessive das moderne Individuum, greift also tief in den Alltag der Menschen ein bzw. schafft überhaupt erst so etwas wie ein Alltagsleben (vgl. Henri Lefebvre, ›Kritik des Alltagslebens‹).