Zur Kritik der Befreiung. Einige Bemerkungen zur Aktualität emanzipatorischer Politik
Auch wenn wir das Wort Emanzipation gemeinhin mit Befreiung übersetzen, so meint der Begriff doch wesentlich mehr, nämlich Freisetzung, Freilassung, Freisprechung und Verselbstständigung. Wenn schon Emanzipation als Befreiung definiert wird, dann also explizit im Sinne der Selbstbefreiung. Die Herkunft des Wortes ist nicht unwichtig; die Aktualität des kritischen Emanzipationsbegriffs kann nur aus der kritischen Begriffsgeschichte gewonnen werden: sie entfaltet sich schließlich aus dem kritischen Begriff der Geschichte. Ein kleiner Gewaltmarsch durch die Eiswüste der Abstraktion scheint nötig, um zum Konkreten zu gelangen, gerade wo neulinke Modetheorien auch den Emanzipationsbegriff mittlerweile bis zur postmodernen Unkenntlichkeit entstellt haben, so dass er schließlich nur noch als Minimalkonsensphrase wieder erkennbar ist. Für die kritische Theorie bleibt die Frage zentral, wovon und wofür emanzipiert wird. Emanzipation ist die praktische Selbstbefreiung des Menschen, oder sie tendiert zum Gegenteil, zur Vernichtung des Selbst.
Krise und Illusion. Zur Philosophie der Massenkultur
»Es ist unwidersprechlich: es mangeln der Massakultur unsers Geschlechts und der einzig möglichen Massabehandlung derselben wesentliche Fundamente, deren festes, gesichertes Dasein die Individualkultur desselben wesentlich anspricht und ansprechen muss. – Mehr noch: Sie, die Massakultur unsers Geschlechts, ruht als solche wesentlich auf Fundamenten, die den Ansprüchen unserer Individualkultur unwidersprechlich entgegenstehen. Die Massakultur und mit ihr die wesentlichen Formen und Gestaltungen des gesellschaftlichen Zustands gehen unwidersprüchlich überwiegend von den Ansprüchen unsers Fleisch und Blutes aus.« Diese Sätze des Bildungstheoretikers Johann Heinrich Pestalozzi von 1823 gehören zu den ersten Zeugnissen, in denen von Massenkultur die Rede ist. Seine Sorge über Mangel und Mängel der Massenkultur akzentuiert bereits das für das Bürgertum des 19. Jahrhunderts symptomatische Verhältnis zur Kultur: Die Massenkultur sei in ihrer Entwicklung und Wirkung von einer höheren Kultur grundsätzlich zu unterscheiden; die Massenkultur bedeute eine Gefahr für die höhere Kultur, habe ihren Ursprung in niederen Trieben und Bedürfnissen, und führe kaum zur Verbesserung des Menschen.
Aktualisierung des Ungleichzeitigen. Anmerkungen zur Prozesslogik einer mehrschichtigen Dialektik
Kritische Theorie stellt die moderne, spätkapitalistische Gesellschaft als Kulturindustrie dar; alle Kultur ist zur Ware geworden, Aufklärung zum Massenbetrug; die ökonomische Verwertungslogik durchzieht alle sozialen Bereiche, verfestigt die bestehenden Zustände als verwaltete Welt. Zugleich sind diese Verhältnisse allerdings nicht stabil, sondern von einer fortschreitenden Krise gekennzeichnet. Die Wertvergesellschaftung gelingt nur in Widersprüchen; die Phantasmagorien der Warenwelt bringen das, was wir zeitgemäß, aktuell oder modern nennen, nur als ungleichzeitigen Zusammenschluss von höchster Fortschrittlichkeit und urgeschichtlichen Motiven hervor: Mit den neuesten Techniken der Computeranimation werden Dinosaurier wiederbelebt, im Science Fiction gelingt es der Menschheit, weit in die Zukunft vorzudringen, um dann doch auf die Ursprünge zu stoßen, die Traumhölle am ›Event Horizon‹. – Dieser kollektive Traum einer Gesellschaft, die, wie es Walter Benjamin in seinem dialektischen Bild faßt, träumt, daß sie erwacht sei, um so von den bedrohlichen Weckreizen nicht in ihrem Schlaf gestört zu werden, wird doch individuell in je verschiedenen, verzerrten und verborgenen Wunschbildern geträumt: Es ist das Unabgegoltene, das sich als Utopisches im Vorbewußtsein ebenso manifestiert wie Regressives, Reaktionäres im Unbewußten und falschen Bewußtsein. Ernst Bloch akzentuiert als Hoffnungsphilosoph, ohne die Kritik an den gegenwärtigen Zuständen zu schmälern, diese Aspekte des subjektiven Faktors. Dafür entwickelt er in ›Erbschaft dieser Zeit‹ das Konzept der Ungleichzeitigkeit, um so die »Hohlräume« auszuleuchten, in denen eine mehrschichtige Dialektik zugleich den Kitt bildet, der zusammenhält, was im selben Augenblick von ihr gesprengt zu werden vermag.
Konkrete Praxis
versus direkte Aktion
Horst Müller, ›Das Konzept PRAXIS im 21. Jahrhundert. Karl Marx und die Praxisdenker, das Praxiskonzept in der Übergangsperiode und die latent existierende Systemalternative‹, BoD-Verlag: Norderstedt 2015, 600 Seiten, brosch.
»Im Handgemenge mit der Wirklichkeit bleiben«
»Es gibt kein richtiges Leben im falschen«, heißt es prägnant und bekannt in Theodor W. Adornos ›Minima Moralia‹, seiner Sammlung von »Reflexionen aus dem beschädigten Leben«. Adorno emigrierte, lebte seit 1938 in den USA, zunächst in New York, dann in Los Angeles. Als er an den ›Minima Moralia‹ arbeitete, war er kurz über vierzig Jahre alt. In Deutschland regierte der Terror, mittlerweile als gesellschaftliche Normalität eines durch und durch faschisierten Alltags.
Gut zwei Jahrzehnte jünger als Adorno ist Peter Brückner: 1922 in Dresden geboren, in bürgerlichen, wenn auch bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, »gebildeter Mittelstand am Rande der Verarmung«: der Vater Mathematiker, Ingenieur, seit 1929 arbeitslos, auch nach 1933 keine Ambitionen, eine feste Anstellung zu bekommen; die Mutter Konzertsängerin – Engländerin und Jüdin, was aber den Nazis gegenüber verheimlicht werden konnte; sie ging im Frühjahr 1936 zurück nach England. Als Kind war Peter oft alleine, wurde rebellisch und schlecht in der Schule, stromerte herum. Im Winter 1935 drohte Fürsorgeerziehung: ein »geborener Dissident«, der schnell eine »anarchische Lust des Abseits« entwickelte, so Peter Brückner später im Rückblick. Als Jugendlicher verbrachte er einige Jahre in einem Internat in Zwickau; im Sommer 1939 flog er dort raus, kam zurück nach Dresden, wieder auf das dortige Realgymnasium. Der Siebzehnjährige findet Kontakt zu Kommunisten im Untergrund, liest viel. »Wer das Nichtstun ebenso wie die Arbeit scheut, findet leicht zum Buch«, notiert er später in seinem autobiografischen Essay ›Das Abseits als sicherer Ort‹.
Ihr Leben kann zu
Schulungszwecken aufgezeichnet werden
Eine Karikatur: Auf einer belebten Straße, womöglich im Zentrum einer Großstadt; die Leute gehen umher, beinahe alle sehen gebannt in ihre Smartphones, bemerken nicht, was um sie herum geschieht. An einem Haus hängt ein großes Schild, auf dem mit Computerschrift steht: »Ihr Leben kann zu Schulungszwecken aufgezeichnet werden«.
Das wird eine Kritik des Behaviorismus dezidiert zu untersuchen haben: Inwieweit die Konditionierungen der Menschen in der verwalteten Welt mit der Konfiguration von Sicherheit, Beobachtung und schließlich Überwachung durch digitale Technik zusammenhängt – und zwar insbesondere im Kontext der Entwicklungen seit den 1970er Jahren, inwiefern nämlich individualisiertes Rollenverhalten mit den verschiedenen Möglichkeiten der Kontrolltechnologie durch Computerisierung und Kybernetisierung zusammenhängt: Ein entscheidender Faktor scheint zu sein, dass die Technologie in den Sozialisationsprozess implementiert wurde – oder besser: sich implementierte.
Es muss nämlich davon ausgegangen werden, dass dies der Strukturlogik einer Gesellschaft folgt, die ihre letzthin anarchische Ökonomie des Kapitals zur Krisenvermeidung oder zumindest, um den Anschein der sozialwirtschaftlichen Stabilität zu wahren, durch kybernetische oder überhaupt technische Verfahren zu glätten versucht. Denn der Kapitalismus schreibt sich keineswegs widerspruchsfrei in die Subjekte ein; eine Technik, die auf der formalen Logik eines binären Systems basiert, bietet sich an, die unmittelbar auf Sozialität bezogenen menschlichen Verhaltensweisen gleichsam wie ein Betriebssystem zu steuern, das Konflikte in »Programmfehler« zu kodieren vermag. Das ist dem Prinzip nach eine Automatisierung, die bereits im neunzehnten Jahrhundert mit der Industrialisierung beginnt und sich dann im zwanzigsten Jahrhundert in der mechanischen Optimierung der Arbeitsabläufe in der fordistischen Fabrik fortsetzt; seit dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert greifen hierbei Sozialtechniken zur Orientierung (Ausrichtung, also »Ostung«, P. Brückner) der Menschen als Bevölkerung: das ist das Zusammenspiel von Städteplanung, Hygienemaßnahmen, Entstehung von Freizeit und für die Freizeitgestaltung nötige ›moderne‹ Rituale wie Sitten und Gebräuche sowie am Freizeitverhalten ablesbare »Mentalitäten«, Massenpsychologie, Rassismus, Nationalismus, Tourismus und schließlich Behaviorismus (vgl. Klaus-Jürgen Bruder, ›Psychologie ohne Bewusstsein. Die Geburt der behavioristischen Sozialtechnologie‹, Frankfurt am Main 1982; siehe ebenso: Michel Foucaults Konzept der Biopolitik. Auch ist in diesem Zusammenhang auf die Untersuchung der Bedeutung von »Kalkulierbarkeit« etwa bei Georg Simmel oder Georg Lukács – im Zusammenhang mit Verdinglichung – hinzuweisen). Diese Orientierung der Bevölkerung konditioniert »die Masse« und, vor allem, konstituiert sukzessive das moderne Individuum, greift also tief in den Alltag der Menschen ein bzw. schafft überhaupt erst so etwas wie ein Alltagsleben (vgl. Henri Lefebvre, ›Kritik des Alltagslebens‹).
Harburg an der Süderelbe
Rezension zu Rainer Jogschies‘ Bericht ›21 Hamburg 90‹ folgt! (rb, 6|2015) Link zum Buch: hier. (13)