Gustav Mahler und Derek Bailey

Der Klang des Scheiterns der Moderne

So wie die Moderne in der Malerei vielleicht mit Cézanne und in der Literatur gewiss mit Charles Baudelaire beginnt, so beginnt sie in der Musik etwa mit Gustav Mahler.

Der Maler Paul Cézanne – er lebte von 1839 bis 1906 – gehörte zu den französischen Impressionisten; wie Pissarro, Monet oder Manet ging auch Cézanne mit der Kunst ins Freie. Die Moderne nahm die Staffelei auf die Straße mit, konfrontierte die Kunst mit dem Alltagsleben der Städte. Zugleich veränderte sich mit dem impressionistischen Zugriff auf die Realität die Realität selber, wurde in Farbe und Form neu konstruiert. Cézanne malte die Natur, indem er sie im Bild zerlegte, in der Abstraktion konkretisierte, und gleichsam wie die Naturwissenschaft um Neunzehnhundert noch einmal erfand: als Modell. Die Kunst der Moderne kann dadurch definiert werden, dass sie das Scheitern der Moderne einbezieht – in ihr Bild, in ihre Produktion.

Der Schriftsteller Charles Baudelaire – er lebte von 1821 bis 1867 (starb also in dem Jahr, in dem Karl Marx den ersten Band seines ›Kapitals‹ veröffentlichte) – prägte den Begriff der Modernität in diesem Sinne:

»Die Modernität ist das Vorübergehende, das Entschwindende, das Zufällige, ist die Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unabänderliche ist«, notiert Baudelaire 1863.

Wer mit den ein Jahrhundert später auftauchenden Theorien der Postmoderne vertraut ist, wird festgestellt haben, dass sich dieser Begriff der Modernität eigentlich gar nicht von den Zentralpostulaten der Postmoderne unterscheidet … aber dazu später mehr.

Und Gustav Mahler?

Mahler wird am 7. Juli 1860 in Kalischt – das ist in Böhmen – geboren. Als Kind lernt er Akkordeon und Klavier. In Wien studiert er Komposition, hört Vorlesungen bei dem Musikwissenschaftler Eduard Hanslick und bei dem Komponisten Anton Bruckner. 1880 wird Mahler Kapellmeister; er reüssiert alsbald zum berühmten Dirigenten seiner Zeit. Von 1891 bis 1897 ist Mahler erster Kapellmeister am Stadttheater in Hamburg. 1897 bis 1907 ist er Hofoperndirektor in Wien. Ab 1908 ist er an der Metropolitan Opera in New York, leitet dort die New Yorker Philharmoniker. – Das Privatleben: Gustav Mahler erkrankt, zieht sich eine bakterielle Infektion des Herzens zu; es sind auch seelische Probleme, pathologischer Liebeskummer, der in seinen letzten Arbeiten Ausdruck findet. Am 21. Februar 1911 dirigiert Mahler das letzte Mal in New York. Er reist, äußerst geschwächt, körperlich und psychisch am Ende, nach Europa. Am 18. Mai stirbt er in Wien.

Jens Malte Fischer, Professor für Theaterwissenschaften an der Universität München, hat über Gustav Mahler eine voluminöse Künstlerbiografie verfasst: auf knapp tausend Seiten entfaltet er das Leben des Dirigenten und Komponisten. Dabei steht die Person, beziehungsweise die Persönlichkeit Mahlers im Vordergrund. Es ist eine schwierige Persönlichkeit und aus ihrer Komplexion, aus ihren Widersprüchen entwickelt Fischer mehr als nur eine private Biografie Gustav Mahlers: Auf diesem Wege gelingt es ihm zugleich, Mahler als Gesellschaftscharakter darzustellen – und damit über das musikalische Werk hinaus eben zu zeigen, inwiefern Mahler zur Moderne, zur Krise der Moderne gehört, die in diesen Jahrzehnten um Neunzehnhundert kulminiert.

Es ist zwar keine »Gesellschaftsbiografie«, wie Siegfried Kracauer sie über ›Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit‹ geschrieben hat; aber weil die Person Mahler – der Bildungsbürger, das beschädigte Subjekt, der wenig religiöse Jude, der nicht zuletzt wegen des Antisemitismus zum Christentum konvertiert und sich für katholische Erlösungslehre ebenso begeistert wie für die Theosophie –; weil also diese Person Mahler für die damalige Zeit so signifikant ist, weist jede Beschreibung seines Lebens über das Private hinaus: Der Titel der Biografie ›Der fremde Vertraute‹ könnte insofern ebenso Titel für die Analyse der psychischen Struktur des bürgerlichen Subjekts in der Moderne überhaupt sein.

Am 26. August 1910 trifft sich Mahler mit Sigmund Freud im niederländischen Leyden. Genauer gesagt: Mahler konsultiert Freud wegen einer Psychoanalyse; es wird ein Spaziergang, eine Kurz-Analyse; der psychotherapeutischen Regel gemäß erhält Freud das Honorar von 300 Kronen für diese »Sitzung«, allerdings erst nach Mahlers Tod. Hat der Fall Mahler Spuren in den Schriften von Freud hinterlassen? In der Freudforschung ist diese Frage bisher nicht gestellt worden. Fischer führt es zwar nicht aus, verweist aber auf zwei Beiträge von Freud von 1910 ›Über einen besonderen Typus der Objektwahl beim Manne‹ und 1912 ›Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens‹ (S. 804).

Aber auch umgekehrt führen Spuren von Freud zu Mahler: es ist der Weg von der Spätromantik in die Moderne, der sich in der Musik bezeichnender Weise später findet als in der bildenden Kunst und Literatur; es ist der Königsweg des Unbewussten, als dessen Entdecker Sigmund Freud ja gelten kann. Die Psychoanalyse – das ist ein guter Teil der Moderne; das Seelenleben der Moderne – das findet in der Musik Gustav Mahlers sein dramatisches Klangbild.

Was macht also Mahler als Komponisten modern?

Die Antwort ist: die Moderne selbst. Als Epochenbegriff im Sinne der Neuzeit meint »Moderne« ja zunächst nicht mehr als ein historisches Bewusstsein, das Vermögen des Menschen, sich selbst in der Geschichte zu verorten und einen Begriff von Gegenwärtigkeit zu haben, der sowohl zur Vergangenheit wie auch zur Zukunft im Verhältnis steht. Dieses moderne Bewusstsein als Bewusstsein von der Moderne findet sich etwa in der Hegelschen Philosophie systematisch entfaltet: In ihr ist die von Kant noch rein philosophisch, nämlich anthropologisch gestellte Frage »Was ist der Mensch?« nunmehr mit der konkreten Geschichte des Menschen vermittelt oder, anders gesagt, im Prozess begriffen. Das heißt, um es einfach zu fassen, allein für die Frage, was der Mensch sei, braucht es bereits einen Menschen, der über soviel bewusste Fähigkeit zur Selbstdistanz verfügt, diese Frage überhaupt zu stellen. Geschichtslogisch sind dabei die Fragen: »Was war der Mensch?« sowie »Was wird der Mensch?« impliziert; und der geschichtslogische Begriff dafür lautet: Fortschritt. Also: auf der geschichtlichen Bahn des Fortschritts den Menschen selber geschichtlich zu rechtfertigen – das heißt Moderne, zumindest ihrem idealistischen Verständnis nach. Und die Legitimationsinstanz ist nach Hegel die Philosophie; und auch wenn Hegel der Kunst eine Absage erteilt – durch seine berühmte These vom Ende der Kunst –, so hat ebenso die Kunst im bürgerlichen Zeitalter primär die Funktion, die Moderne zu rechtfertigen. Das erfüllt diejenige Kunst am meisten, die am dichtsten an der Objektivität dran ist, die am deutlichsten darstellen kann: begrifflich – Literatur, oder bildlich – Malerei. Der Musik, die sich ohnehin gerade erst innerhalb des Kanons der Künste etablierte, gehört zu dieser Zeit ganz romantisch die Innerlichkeit des Subjekts, das Emotionale, der schwärmerische Klang, der Mythos und das Naturale.

Nun kann man sagen: gerade wo sich materialistisch zeigt, dass der Fortschritt der Moderne im neunzehnten Jahrhundert anders aussieht, nämlich zunehmend dem Versprechen einer Humanisierung der Welt entgegenläuft, bekommt jene Kunst eine neue Bedeutung, die diese Idee des Humanen in ihrem Innersten zu bewahren vermochte: die Musik. Hierbei sind Mahlers Sinfonien mehr als exemplarisch.

Mahlers Werk besteht aus Sinfonien und Liedern. Im Vordergrund stehen dabei die zehn monumental angelegten Sinfonien; neun vollendete, eine zehnte unvollendete.

Bei Hegel kulminiert der geschichtliche Fortschritt im Weltgeist. Adorno sagte über die Neunte Sinfonie Beethovens, sie sei der musikalische Ausdruck des Weltgeists, realer Humanismus. Beethovens Neunte ist unvollendet. Mahlers erste Sinfonie trägt den Titel »Der Titan«; er steigt gleichsam aus den Trümmern eines Jahrhunderts, in dem Beethovens Vertonung der Schillerschen Ode an die Freiheit längst verstummte. Die Menschen wurden keine Brüder. Das bürgerliche Subjekt ist auf sich selbst zurückgeworfen. Seine Signatur ist die Verlorenheit; nur in der Einsamkeit scheint es noch Kraft zu schöpfen. Die Gesellschaft gibt es bloß noch als eine Idee der Natur, im positiven wie im negativen Sinne, das heißt als Utopie der Befriedung des Daseins und als manifestes Gewaltverhältnis. Hören wir jetzt den ersten Satz von Mahlers erster Sinfonie, die im November 1889 in Budapest unter Mahlers Leitung uraufgeführt wurde.

Mahlers Moderne beginnt mit einem Kuckuck, mit einem Weckruf der Natur, in der sich aber schon der Klang von Maschinen, von großer Industrie versteckt (Adorno hörte im Anfang der Ersten Sinfonie ein Pfeifen wie von einer Dampfmaschine). Anders gesagt: die Moderne beginnt bei Mahler antimodern.

Die philosophische Moderne, die in Hegels System ihren Höhepunkt hat, zerbricht am Ende des neunzehnten Jahrhunderts mit Nietzsche (Nietzsche – ein Zeitgenosse Mahlers, lebte von 1844 bis 1900). Die Moderne des neunzehnten Jahrhunderts findet in den massiven Urbanisierungsprozessen ihren Ausdruck: das moderne Leben ist das Großstadtleben. Für die meisten indes, für die proletarischen Massen, bedeutet es das nackte Elend, Dreck, Armut. Aber auch das bürgerliche Subjekt findet sich im Stadtleben zerrissen wieder; die Moderne heißt ihm eine zunehmende Entfremdung. Nietzsche hat dies drastisch und mitunter zynisch nachgezeichnet. Der Mensch bringt nicht nur sich selber um, sondern tötet selbst seinen Gott; der Sinn der Moderne: sie wird sinnlos. Die Stadt wird zum Ort des Verderbens, als Flucht bleibt nur der einsame Wahnsinn, die Natur, wie Nietzsche es in seinem ›Zarathustra‹ beschreibt. Mahler verwendet daraus Motive für seine Dritte Sinfonie, uraufgeführt am 6. Juni 1902 in Krefeld unter Leitung des Komponisten. Wir hören den vierten Satz:

Die Ambivalenzen in Mahlers Moderne sind immer auch räumliche: der Widerspruch zwischen Stadt und Land, zwischen Metropole und Natur, Alpenidylle mitten in New York. Auch darin zeichnet sich der Einbruch des Trivialen ab, der so charakteristisch ist für Mahlers Musik: immer wieder hört man Kinderlieder, populäre Melodien, Naturlaute – und immer wieder brechen diese auch in sich zusammen, verdichten sich, bauen sich zu gewaltigen Klangwänden auf. In einer Zeit, wo das Komponieren von Sinfonien eigentlich antiquiert scheint, wählt Mahler die große Form, das Riesenorchester – die Achte Sinfonie von 1910 wurde mit über tausend Mitwirkenden uraufgeführt und trägt deshalb auch den Beinamen »Sinfonie der Tausend«. Wir hören den Anfang des ersten Teils, »Veni, Creator Spiritus« …

Um Neunzehnhundert zerbricht das Vertrauen des modernen Bewusstseins in das, was wir »Wirklichkeit« nennen. Das naturwissenschaftliche Weltbild der Newtonschen Mechanik, welches dem Rationalitätsdenken der Aufklärung als Orientierung galt, wird durch die neuesten Erkenntnisse der Quantenphysik und Relativitätstheorie grundlegend irritiert; auch die Physiologie legt dar, dass wir die Welt nicht einfach so wahrnehmen, wie sie ist, dass der Bruch zwischen Wesen und Erscheinung durch die Individuen selbst verläuft und die physische wie psychische Apparatur des Menschen gleichermaßen betrifft. Mit Telegrafie und Telepathie werden neue Realitäten erschlossen, die Psychoanalyse dringt in die tiefsten Seelenschichten vor, während die Röntgentechnik die Geheimnisse der Anatomie preisgibt. Detektivischer Blick aufs Detail lässt Geschichten und Geschichte in einem neuen Licht erscheinen, ebenso liefern die Fotografie und der Film neue Ansichten der Wirklichkeit. Die Moderne wird nervös und elektrisch. Kracauer resümiert dies gewissermaßen, wenn er in seiner Essaysammlung ›Die Angestellten‹ 1930 bemerkt: »Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion.«

Als solche Konstruktion von Wirklichkeit kann auch Mahlers Musik gehört werden. Mahler selbst schrieb in einem Brief: »Das Komponieren ist wie ein Spielen mit Bausteinen, wobei aus denselben Steinen immer ein neues Gebäude entsteht. Die Steine aber liegen von der Jugend an, die allein zum Sammeln und Aufnehmen bestimmt ist, alle schon fix und fertig da.« (Zit. n. Fischer, S. 197) – Auch wenn Mahler hauptsächlich wohl in der Natur komponierte, etwa in seinem Komponierhäuschen am Wörthersee (von dem man heute auf ein Autobahnviadukt am anderen Ufer blickt), so darf nicht vergessen werden, wie die urbane Moderne um Mahler herum sich gestaltete: Wien – das ist eben nicht nur die Ringstraße, sondern der Jugendstil der Secession, Otto Wagner (Wiener Postsparkasse) oder Adolf Loos (›Ornament und Verbrechen‹). Oder New York – seit 1898 Greater New York, auf dem Weg zur Weltmetropole, Neunzehnhundert mit schon dreieinhalb Millionen Einwohnern.

Hören wir noch einmal Mahler, und zwar den Adagio-Satz aus der unvollendeten zehnten Sinfonie.

* * *

Wie bereits angedeutet, findet sich zwischen dem Begriff der Modernität des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts auf der einen Seite und auf der anderen Seite dem Befundsbegriff der Postmoderne, wie er in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, auftaucht, eine große Affinität – insbesondere in Bezug auf die Kunst; die Begriffe scheinen nachgerade übersetzbar, auch wenn mit der Postmoderne doch eigentlich die radikale Infragestellung der Moderne, das Ende oder der Tod der Moderne, angezeigt sein soll.

Die Entwicklung der musikalischen Moderne oder der modernen Musik, die mit Mahler beginnt, nimmt ihren Verlauf über die Zweite Wiener Schule, wozu Arnold Schönberg, Anton Webern, Alban Berg gehören. Mit der freien Atonalität und Zwölftontechnik gerät die bürgerliche Kunstmusik jedoch auch zunehmend in eine isolierte Position, verstummt sukzessive in einer ästhetischen Esoterik und kulturellen Bedeutungslosigkeit. Anders ist es mit Mahler, dessen Musik heute zum üblichen Repertoire des bürgerlichen Konzertbetriebs gehört und sich größter Beliebtheit erfreut, ja zur regelrechten Mode geworden ist. Dabei darf man nicht vergessen, dass Mahlers Sinfonien dereinst auf Ablehnung und Ressentiments stießen und verachtet wurden. Das hat sich eigentlich erst in den sechziger und siebziger Jahren verändert und könnte auch mit der Ausweitung der Kulturindustrie zu tun haben, das heißt mit der Entwicklung des Schallplattenmarktes und der Ökonomisierung des Musikbetriebs. Zudem kommt in den siebziger Jahren das Hollywood-Kino zurück; und so manche Blockbuster-Filmmusik klingt mindestens wie Anton Bruckner, wenn nicht wie Gustav Mahler – man denke etwa an die Themen von ›Star Wars‹ oder ›Superman‹. Visconti verwendet überdies in seiner ›Tod in Venedig‹-Verfilmung von 1971 das »Adagietto« aus der fünften Sinfonie Mahlers.

Wir sind in der Postmoderne angekommen, wo ohnehin Kunst – auch oder erst recht die sinfonische Musik – ihre ästhetische Bedeutung zugleich verliert und vervielfältigt. Überdies muss man sagen: gerade in der postmodernen Perspektive hat jetzt vollends der Pop die Kunstmusik eingeholt; den Impulsen der ästhetischen Neoavantgarde, welche die Entwicklung der Literatur und vor allem bildenden Kunst in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts bestimmen, vermochte die bürgerliche Kunstmusik nicht zu folgen: sie wird bestenfalls albern, schlimmstenfalls reaktionär, in der Regel aber einfach bedeutungslos und unsinnig. Die Musik ist die erste bürgerliche Kunstform, die ihre Signifikanz verliert. Zugleich ist die Musik aber auch die erste Kunstform, die als Pop eine universelle Signifikanz herausbildet. Oder so herum: Einerseits hat sich keine musikalische Form der Postmoderne entwickelt, andererseits kann der gesamte Pop als postmoderne Musik gehört werden.

Sucht man dazwischen die ästhetische Freiheit, den progressiven Klang, das musikalische Bewusstsein für den gesellschaftlichen Widerspruch ebenso wie das gesellschaftliche Bewusstsein für den musikalischen Widerspruch, wie man es bei Mahler noch herauszuhören vermag, so muss man das Ohr auf eine andere Spur lenken, auf die unterirdische Geschichte der Moderne – auf die Musik, die untrennbar mit der Moderne verbunden ist, aber von der Moderne selbst unterdrückt wurde: Es geht um das, was sich aus dem Jazz heraus als freie Improvisation entwickelt hat.

In seinem anti-autobiografischen Bericht ›Shitkicks And Doughballs‹ hat Ben Watson fünf Thesen über die Philosophie der Musik implementiert, aus denen ich zitiere:

In der ersten These heißt es:

»Philosophy and music are analogical. Both are today in complete disarray, unplugged from any sense … of purpose or function … In the twentieth century the Masses have become the Prime Movers in philosophy and music, challenging the rights of the experts in either.« (S. 146)

Und in der zweiten These schreibt Watson erläuternd:

»European art music was developed on the same model as its philosophy. The task of the composer was to present a sequence of musical ideas as an object of contemplation. Germany’s Romantic Music – like its Idealist Philosophy and Scientific History – portrayed world historical events on a large canvas.« (S. 146)

Aus der dritten These:

»The two-minute rock’n’roll 7” single solved musical problems that stumped Mahler and Schoenberg.« (S. 147)

In der vierten These heißt es dann:

»Likewise, 12-tone and serialism unrolled musical canvases that were too much for the contemplative eye, leading towards awareness of perceptual limits. The stunned audience looked about the auditorium and out onto the street.« (S. 147)

Schließlich schreibt Watson in der fünften These:

»Stemming from a culture of in-the-round participation, African music seized technology originally designed to disseminate the alienation of the proscenium arch … The quotidian entered history as music broke with the idea of timeless art, and politics realised the act of breaking with philosophical contemplation.« (S. 147)

Der in London lebende Ben Watson ist Kommunist, genauer gesagt: ein Marxist, der sich auf Trotzki, Benjamin und Adorno in seiner politischen Ästhetik gleichermaßen bezieht. Von Adorno inspiriert ist nicht nur die Eingangsthese, dass Philosophie und Kunst aufeinander verwiesen sind. Watson interessiert sich ferner und vor allem für jene Passagen Adornos, die von der künstlerischen Praxis handeln, vom somatischen Moment, vom »Taktilen«, wie es bei Benjamin heißt. Damit gehört er zu jenen kritischen Theoretikern, die Adornos Jazzkritik – die ansonsten als bildungsbürgerlicher Beweis des Bildungsbürgers für seine Bildungsbürgerlichkeit gilt – als Kritik der Musik unter kapitalistischen Bedingungen ernst nehmen. Wenn Watson Jazz hört, dann nicht gegen Adorno, sondern mit ihm, oder vielmehr: gerade vermittelt mit der radikalen Intention, die Adornos ästhetischer Theorie zugrunde liegt. Dazu muss man wissen, dass das, was für Adorno Beethoven bedeutete, für Watson Frank Zappa bedeutet; und dass das, was Adorno in Gustav Mahler hörte, Ben Watson in Derek Bailey findet.

Ihm, Derek Bailey, hat Ben Watson nun eine beinahe fünfhundertseitige Monografie gewidmet. Sie heißt ›Derek Bailey And The Story Of Free Improvisation‹. Und sie zeigt auf dem Cover Bailey sitzend, mit Gitarre. Wer ist Derek Bailey?

»Derek Bailey is a guitarist, a guitarist’s guitarist, a guitar fetishist’s ultimate guitarist, a player whose playing proceeds from his instrument in a way that hasn’t been done with such unswerving devotion since Hendrix amazed London by sleeping with his instrument.« (S. 1)

Damit fängt das Buch an, das steht auf Seite Eins.

Und es endet mit einem Postkartengruß von Bailey:

»Before me on my desk I have a postcard from Derek Bailey … IMPROV IS STILL RUBBISH … Derek Bailey. What a card.« (S. 377 f.)

Derek Bailey wurde am 29. Januar 1930 in Sheffield geboren. 1966 zog er nach London, machte mit Tony Oxley, Dave Holland, Kenny Wheeler, Evan Parker, Anthony Braxton, John Zorn, Henry Kaiser und vielen anderen Musik, nein: improvisierte Musik, nochmals nein: Freie Improvisation. »Free Improvisation has a distinct aesthetic. It has never been a matter of anything goes … Free Jazz and Free Improvisation can be contrasted … It supersedes American racial distinction with the more fundamental struggle over social vision and class allegiance.« (S. 225)

Und, über die so genannten Company Weeks, die Derek Bailey das erste Mal im Mai 1977 im Institute of Contemporary Arts (ICE) in London veranstaltete:

»If the birth of Free Improvisation coincided with a high point in terms of mass resistance to capitalism – the Watts and other riots of summer 1965, the Tet Offensive of February 1968, the mass strikes and occupations of May 1968 – Company [Weeks] was inaugurated for a period of massive downtown in struggle and consciousness, the Reagan/Thatcher-dominated eighties.« (S. 225 f.)

Ein Jahr nach der Veröffentlichung von Ben Watsons Buch stirbt Bailey: am 25. Dezember 2005.

Wo steht die Freie Improvisation im historischen Gefüge der Moderne? – Sicherlich: sie ist ebenso marginal wie die bürgerliche Kunstmusik heute; zwar richtet sie sich an das von der Massenproduktion, auch der musikalischen Massenproduktion geprägte Ohr, aber sie erreicht dennoch nicht die Hörer. Und das liegt nicht nur an den Mechanismen des vom Profitmotiv bestimmten Musikbetriebs.

Wie dereinst eine Sinfonie von Mahler vermochte, den Zeitgeist als Krise musikalisch zu erfassen, so findet in der Freien Improvisation heute die zur Normalität nivellierte Katastrophe ihren musikalischen Ausdruck. Dabei geht es nicht bloß um die Klangmetapher – schräge Töne verweisen auf eine schräge Weltlage. Sondern es geht um das, was sich an subjektiver Erfahrung objektiv in der Musik einlagert. Deshalb macht es Sinn, dass Ben Watson nicht nur eine Biografie über Bailey geschrieben hat, sondern zugleich eine materialistische Ästhetik über Freie Improvisation. Auch wenn Watson das Wort ablehnt: aber gerade in der materialistischen Perspektive ist eine solche Ästhetik postmodern: weil sie reflektiert modern ist, das heißt sich der Dialektik der Moderne musikalisch bewusst ist.

Bailey bleibt nur ein Ausweg aus der Moderne. Und dennoch lässt sich sagen: So wie die Moderne in der Malerei mit Richard Hamilton und in der Literatur mit Samuel Beckett endet, so hört sie in der Musik mit Derek Bailey auf.

Jens Malte Fischer, ›Gustav Mahler. Der fremde Vertraute. Biografie‹, Zweitausendeins Verlag: Frankfurt am Main 2005, 991 Seiten mit zahlreichen Abbildungen.

Ben Watson, ›Derek Bailey And The Story Of Free Improvisation‹, Verso: London und New York 2004, 448 Seiten mit zahlreichen Abbildungen.

Ben Watson, ›Shitkicks And Doughballs‹, Spare Change Books: London 2003, 228 Seiten

Gesendet am 17. August 2007, FSK: Radiobücherkiste (Freitag 10.00 bis 12.00 Uhr). – Sprechzeit: 31:33 Minuten. Musik von Gustav Mahler und Derek Bailey.

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