Wintersemester 2022 / 2023: Erziehung und Gesellschaft – Probleme und Herausforderungen

Wintersemester 2022/2023,
Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Erziehung ist auch dort, wo sie im »Privaten« geschützt als Familienzusammenhang (Eltern-Kind) verhandelt wird, ein soziales Verhältnis; sie ist von den gesellschaftlichen Verkehrsformen abhängig und bestätigt, sichert und reproduziert diese gleichzeitig. Als ihre Bedingung ist Gesellschaft zugleich also eine »Grenze« der Erziehung, wie es Siegfried Bernfeld vor fast einhundert Jahren herausgearbeitet hat. Das wäre nicht weiter bedenklich, wenn nicht die Gesellschaft selbst bedenklich wäre: weil sie bei aller Freiheit, die sie ermöglicht, durch Macht, Gewalt und Herrschaft strukturiert ist. Pädagogik, die davon bestimmt ist, versucht das gleichwohl zu durchbrechen. Das (sich) bewusst zu machen, ist Aufklärung genannt worden, oder Bildung (Heinz-Joachim Heydorn hat das als Widerspruch von Bildung und Herrschaft beschrieben).
Dass Gesellschaft bedenklich ist, ist Thema der kritischen Theorie: Sozialgeschichte ist Geschichte der Gewalt, die Menschen anderen und auch sich selbst antun; geschichtsmaterialistisch sind Subjekt und Herrschaft nicht zu trennen. Aber: Was hält Gesellschaft im Innersten zusammen – wo doch genügend Kräfte vorhanden sind, die Gesellschaft immer wieder bedrohen, sogar zersetzen und zerstören? Das ist die eine Frage der kritischen Theorie, die mit einer zweiten Frage verkoppelt ist: Was sind die Bedingungen der Möglichkeit der Emanzipation?
Bemerkenswert: innerhalb des »engeren Kreises« der kritischen Theorie (Horkheimer, Marcuse, Adorno etc.) sind diese Fragen nicht erziehungswissenschaftlich ausgeführt worden, jedenfalls nicht explizit (anders gesagt: im interdisziplinären Arbeitsfeld des Instituts für Sozialforschung gab es niemanden, die oder der für Pädagogik und Bildung zuständig gewesen wäre).
Gleichwohl gab es einige Versuche und Unternehmungen, die kritische Theorie in die Erziehungswissenschaft einzubinden (vor allem in der Zeit um und nach 1968). Allerdings sind ernstzunehmende Ansätze einer kritischen Erziehungswissenschaft über die Jahre weitgehend aus der Disziplin verschwunden, wenn nicht sogar offensiv verdrängt worden; Gesellschaftstheorie im Sinne einer kritischen Theorie findet sich heute in der Erziehungswissenschaft bloß sporadisch und dann meist abseits des akademischen Kanons. Auch das kann als Symptom verstanden werden für eine problematische Gegenwart, in der Erziehung und Gesellschaft disparat zueinander stehen und kaum noch eine (gegenseitige) Herausforderung darstellen. – Aber: stimmt das überhaupt?
Problemorientiert wollen wir uns in diesem Seminar damit beschäftigen; gedacht ist das auch als Einführung in die Erziehungswissenschaft und Gesellschaftstheorie.

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